Auf der Suche nach Leben
by Bettina Figl
Ein Viertel der Moldauer hat das Land verlassen – die Frauen in Richtung Westeuropa, viele Männer arbeiten in Rußland. Infolge nehmen sich immer öfter zurückgelassene Kinder das Leben. Ein Besuch in einem Mutter-Kind-Heim in Chisinau.
Die zweijährige Jasmin nagt an einem Apfel und blickt zu Boden. Mit ihrer 18-jährigen Mutter Elena lebt sie in einem Mutter-Kind-Haus in der moldawischen Hauptstadt Chisinau. Zur Welt gekommen ist sie aber nicht in Moldawien, dem ärmsten Land Europas, sondern in Niederösterreich. Elenas Mutter hat bereits vor Jahren das Land verlassen, sie arbeitet illegal als Putzfrau und Altenpflegerin.
Dieser Artikel ist am 8.2.2012 in der „Wiener Zeitung“ erschienen und hier im Original nachzulesen.
Vor vier Jahren gelang es ihr, die damals 16-jährige Elena nach Österreich zu holen – doch sobald ihre Tochter 18 Jahre alt war, wurde diese samt Baby abgeschoben. Seit zwei Monaten lebt sie nun in dem kleinen Zimmer mit den rosa Wänden, das Haus wurde vor einem Jahr von der Caritas Österreich errichtet. Sie betreibt es mit der Diaconia Moldau, der Sozialorganisation der bessarabisch-orthodoxen Kirche. Das Haus befindet sich in einer Wohnsiedlung, rings herum liegt ein halber Meter Schnee. Hier leben neun Frauen – die jüngste von ihnen 15, die älteste 42 Jahre alt -, bis zu ein Jahr lang wird ihnen hier ein Dach über dem Kopf geboten. Viele von ihnen sind selbst ohne Eltern aufgewachsen, denn Moldawien ist das Land der Sozialwaisen: Rund ein Viertel der 20- bis 60-Jährigen ist bereits emigriert, und auf der Flucht vor der Armut strömen sie weiter ins Ausland.
8-Jährige, die sich erhängen
Die Kinder werden oft bei den Großeltern oder anderen Verwandten zurückgelassen, und das hat zu einem neuen, furchtbaren Phänomen geführt: Die Selbstmordrate bei Kindern ist „in letzter Zeit deutlich angestiegen“, erklärt eine Mitarbeiterin aus dem Ministerium Valentina Buliga bei einem Besuch der Caritas Österreich und österreichischen Journalisten. Eine Zeit lang waren die Medien voll von Berichten über 8- bis 10-Jährige, die sich erhängt haben – nun wird aufgrund von Nachahmungstätern zurückhaltender berichtet.
Wie viele es sind, die sich in ihrer Verzweiflung das Leben nehmen, konnte oder wollte man im Ministerium nicht sagen. „Wenn ich das höre, geht es mir mies“, sagte Caritas-Präsident Franz Küberl, der die österreichische Delegation begleitete. Er schweigt kurz und sagt dann: „Das geht mir an die Nieren. Aber nach dem Schock muss man die Ärmel aufkrempeln und das, was man tun kann, tun.“
Und dieses Leben ist in Moldawien wahrlich kein leichtes: Für die 300 Lei Sozialhilfe pro Monat (17 Euro) bekommt man gerade einmal Windeln für drei Wochen. Im Mutter-Kind-Haus erhalten die Frauen 75 Euro von der Caritas, sie sollen so lernen, mit Geld umzugehen. Krankwerden ist Luxus: Allein die Medikamente, die man für eine einfache Verkühlung benötigt, übersteigen dieses Budget.
Der Durchschnittslohn in Moldawien beträgt rund 180 Euro im Monat, für eine 30-Quadratmeter-Wohnung im Plattenbau bezahlt man 150 Euro – ohne Heizung, ohne Strom, ohne Gas. In dem Mutter-Kind-Haus müssen die jungen Mütter oft erst lernen, ihre Kinder zu akzeptieren. Denn uneheliche Schwangerschaften sind in Moldawien ein Tabu, die Frauen ohne Ehemann werden oft von ihren Familien verstoßen. Viele von ihnen halten ihre Schwangerschaft daher geheim und wollen ihr Kind nach der Entbindung weggeben. „Meistens ändert sich das, wenn sie ihre Kinder das erste Mal im Arm halten“, sagt Igor Beilei, Leiter des Mutter-Kind-Heims. Trifft man einige Zimmer weiter auf die 16-jährige Olga und ihre fünf Monate alte Tochter Vlada, glaubt man das sofort: Die junge Frau mit der ruhigen, zufriedenen Ausstrahlung erzählt, sie will als Köchin arbeiten. Schon jetzt kocht sie oft mit den anderen Müttern in der Gemeinschaftsküche, doch irgendwann wünscht sich die Vollwaise eine Familie mit Ehemann.
„Das Recht auf Leben“
Auch Elena hat Pläne: Sie will ihre Lehre als Friseurin abschließen und ihrer Mutter nach Österreich folgen. Das wird schwierig, denn die Wahrung des Familienverbandes ist nur möglich, wenn der Asylantrag gestellt wird, solange das Kind minderjährig ist. Die Zahl der Moldauer, die in Österreich Asylantrag stellen, ist aber rückläufig: 2010 waren es 127, 2011 dann 79 Menschen, die vorläufige Statistik für 2012 weist 54 Anträge auf. Die meisten Frauen aus Moldau migrieren nach Italien, auch in anderen westeuropäischen Ländern arbeiten sie als Putzfrau oder Pflegehilfe, die Dörfer ohne Frauen wurden Ende 2012 in der Dokumentation „Mama Illegal“ eindrücklich gezeigt. Die Männer gehen meist nach Russland, um am Bau zu arbeiten. Wenn sie nicht Geld in ihre Heimat schicken würden, würde die Wirtschaft zusammenbrechen.
Bei dem Besuch eines weiteren Projekts für Mädchen nannten diese mehrmals „das Recht auf Leben“ – für Küberl ein Zeichen, dass dieses leider nicht selbstverständlich ist: „Wir müssen uns abgewöhnen, Menschen, die auf der Suche nach Leben sind, abzuqualifizieren – und zwar völlig egal, ob sie aus Afrika oder Osteuropa zu uns kommen.“