Ein Manifest für unfallfreies Radfahren

by Bettina Figl

Vielleicht dachte sie daran, was sie abends kochen würde, oder sie war mit den Gedanken bereits bei dem Interview, das sie später eventuell hätte führen wollen. Keiner weiß es. Dass sie offenbar nicht ganz bei der Sache war, als sie im vergangenen November auf dem Weg in die Redaktion von einem Lastwagen überrollt wurde, ist wohl gewiss – sonst hätte sie schneller reagieren können, hätte vielleicht sogar den Lkw kommen gesehen, der sie ein paar Millisekunden später überrollte; ein menschlicher Körper kann mehrere Tonnen Metall und Hartplastik in Bewegung unmöglich bremsen.

Erschienen im „Falter“ 19/2012 am 09.05.2012

Für die britische Times-Journalistin Mary Bowers ging der Zusammenstoß auf einer Straße in London dramatisch aus: Seitdem sie der Lastwagen niedergefahren hat, liegt Bowers im Wachkoma, unfähig, sich selbstständig zu bewegen und auf äußere Reize zu reagieren; laut vorherrschender Meinung der Medizin ist sie hirntot. Dennoch schaut Bowers mit offenen Augen in die Welt.

Schockiert vom Unfall der Kollegin startete die Times die Kampagne „Cities fit for cycling“ für mehr Sicherheit für Radfahrer. Die Aktion schlug hohe Wellen, zeitigte gewaltiges Leserecho und wurde schließlich im englischen Unterhaus behandelt.

Die verkehrspolitische Kampagne blieb nicht auf die Insel beschränkt. Nach der italienischen Gazzetta dello Sport importierte nun auch der Mobilclub IG-Fahrrad gemeinsam mit der Wiener Zeitung das Fahrradmanifest.

Alec Hager von der IG-Fahrrad und der passionierte Rad-Blogger und -Twitterer Matthias Bernold, früher einmal beim Falter (unter anderem auch als Fahrzeugtester auf dieser Seite) tätig, adaptierten die Forderungen für die österreichische Situation und erweiterten das Londoner Manifest unter Einbeziehung von Leserfeedback inzwischen auf zehn Punkte. Und das war erst der Anfang.

Im Wiener Fahrradmanifest finden sich in einer ersten Version unter anderem – von Aktivisten seit Jahren ins Spiel gebrachte – Forderungen nach Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht, nach mehr Fahrradabstellplätzen oder Fahrradverträglichkeitsprüfungen beim Straßenbau; fünf Prozent des Straßeninfrastrukturbudgets sollten prinzipiell für den Radverkehr aufgewendet werden.

Außerdem soll in Städten grundsätzlich Tempo 30 gelten, finden Hager und Bernold. Doch wie realistisch ist das? „Es geht hier nicht um den Gürtel. Aber 50 Stundenkilometer sollen die Ausnahme sein“, sagt Alec Hager, der auf eine Resolution des EU-Parlaments verweist, die ebenfalls Tempo 30 in den Großstädten empfiehlt.

Das Manifest ist gespickt mit hehren Zielen, führt etwa die „Vision Zero“ ins Treffen, wonach Straßen so gestaltet sein sollen, dass es auf ihnen keine Toten oder Schwerverletzten mehr gibt. Oder man fordert, dass Straßen auch für Volksschulkinder sicher sind.

Doch kann man Kinder auf Wiens Straßen radeln lassen? In verkehrsberuhigten Zonen sei das möglich, sagt Hager. Genau davon brauche es mehr, und Radfahrer müssten stärker in den Verkehr integriert werden. „Die Gefahr geht immer vom motorisierten Verkehr aus“, sagt er und beschreibt, wo diese in Wien lauert: „Abbiegende Autos, unsichere Kreuzungen und zu enge Radwege.“

Je mehr Radfahrer, desto sicherer. Das sagen zumindest viele Verkehrsexperten. Seit 2002 ist landesweit der Radverkehr um 55 Prozent gestiegen, die Zahl der tödlichen Unfälle ist dabei gleichzeitig um 60 Prozent zurückgegangen, so die Statistik Austria.

Also gilt es, Radfahren noch attraktiver zu machen. „Der Glaube, dass das Auto die rascheste Fortbewegung ist, stammt aus den 1950er-Jahren“, sagt Hager.

Für Matthias Bernold ist das Fahrradmanifest auch Beitrag in einer Debatte um eine Neuverteilung des öffentlichen Raums. „Wir wollen die Dominanz der Autos im Stadtbild zurückdrängen“, sagt er. „Nur 30 Prozent der Verkehrsteilnehmer in Wien sind Autofahrer, aber sie nehmen den Großteil des Platzes in Anspruch.“

Auf Bernolds Blog mit dem Namen „Freitritt“ sind mobile Stadtmenschen weiterhin aufgefordert, Anregungen einzubringen, um weiter am Manifest zu arbeiten. Ende Mai soll es dann an Parlamentarier herangetragen werden.