Stirbt die Handschrift?

by Bettina Figl

(c) Ina Weber

(c) Ina Weber

Werden Kinder bald nicht mehr in der Lage sein, eine Notiz mit der Nachricht „Bin einkaufen, komme gleich wieder“ zu verfassen? Wird ihnen das kratzig-reibende Geräusch eines Bleistifts unbekannt sein, weil sie nur noch „in die Tasten hauen“? Werden sie gar nicht mehr von ihren Smartphones aufblicken? Dass die Finnen die Schreibschrift abschaffen und die Schule digitaler wird, ist jedenfalls kein Grund für Kulturpessimismus. Eine Analyse

Dieser Artikel ist am 1.2.2015 in der Wiener Zeitung erschienen.


Die Aufregung war groß, als bekannt wurde, dass Finnlands Schulen – dem Bildungsvorzeigeland schlechthin – künftig auf die Schreibschrift verzichten will. Die Fragen sind überspitzt formuliert, treffen aber den Nerv einer Debatte, die die Angst vor zunehmender Digitalisierung vor Augen führt. Das finnische Bildungsministerium hat zwar prompt richtiggestellt, nicht die Handschrift werde abgeschafft. Lehrern sei es ab Sommer 2016 lediglich freigestellt, ob sie die verbundene Handschrift (auch „Schreib-“ oder „Verbundschrift“ genannt) noch unterrichten oder gleich bei der Druckschrift bleiben.

Nicht nur in Finnland entscheiden die Lehrer
Verwunderlich, dass darum viel Aufhebens gemacht wird. Immerhin ist diese Wahlfreiheit bei unseren deutschsprachigen Nachbarn zum Teil längst gang und gäbe: Hamburg war die erste deutsche Stadt, in der Lehrer bei der Druckschrift bleiben können und auch in vielen Schweizer Kantonen ist es den Lehrkräften überlassen, ob sie die „Schürlischrift“ noch lehren.

In Österreich haben die Lehrer weniger Spielraum. Der aktuelle Lehrplan der Volksschule stellt es ihnen zwar frei, ob sie Kindern das Schreiben in Blockschrift, Schulschrift oder Gemischtantiqua -einer Mischung aus Klein- und Großbuchstaben – beibringen. An der verbundenen Schreibschrift kommt aber kein Schüler vorbei: Bis zum Ende der 2. Klasse müssen sie Buchstaben, Ziffern und Zeichen in einer „der österreichischen Schulschrift angenäherten Form schreiben können“ und „Ansätze zu einer geläufigen Schrift erkennen lassen“, wie es im Volksschul-Lehrplan heißt.

„Wir fangen gleich mit der Schreibschrift an“, berichtet eine Lehrerin aus Wien, die namentlich nicht genannt werden will. Seit 17 Jahren bringt sie Kindern Lesen und Schreiben bei, sie unterrichtet in einer Volksschule im 17. Bezirk. Sie erlebt, dass 6-Jährige besonders schnell lernen: „Das ist eine sehr sensible Phase, in der Kinder besonders offen sind, und die Erfahrung suchen. Sie würden alles lernen, auch chinesische Zeichen. Dagegen sind unsere 26 Buchstaben ein Leichtes.“

Dass die verbundene Schreibschrift für manche Kinder schwieriger zu erlernen ist als die Druckschrift, glaubt die Montessoripädagogin nicht: „Kinder mit motorischen Schwierigkeiten tun sich am Anfang so oder so schwer. Zwei Schriften zu lernen, kostet viel Zeit. Und die Druckschrift lernen sie sowieso beim Lesen.“ Andere Reformpädagogen widersprechen, und eine Integrationslehrerin berichtet von einem Buben, der sich strikt weigerte, von der Druck- auf die Schreibschrift umzusteigen. Und auch viele Eltern fragen: Wozu den Kindern zwei Schriftarten lernen?

Welche Schrift leichter erlernbar oder besser für die Entwicklung des Kindes ist, ist wissenschaftlich ungeklärt. „Das ist sehr individuell: Feinmotorische Fertigkeiten sind Voraussetzung aber auch Folge des Schreibens mit der Hand“, sagt Nadja Kerschhofer-Puhalo vom Institut für Sprachwissenschaft an der Universität Wien. „Aber Handschriftliches zu lesen wird schwieriger, wenn man es nicht gelernt hat.“ Darüber, inwieweit das Erlernen der „Schulschrift“ notwendig ist, um eine persönliche, flüssige Handschrift zu entwickeln, sind sich Experten uneins. Feststeht: Schreiben mit der Hand trägt zur besseren Festigung der Buchstabenbilder und zur schnelleren Wiedererkennung bei. Das wiederum erleichtert es, lesen zu lernen. „Eine gute Handschrift beeinflusst die Motivation und das Selbstbild und kann sich positiv auf die Benotung auswirken“, so Kerschhofer-Puhalo. Die Sprachwissenschafterin betreibt das Projekt „My Literacies“ mit Kindern der 3. und 4. Klasse, um herauszufinden, wie Volksschulkinder Schrift und Geschriebenes im Alltag verwenden und wahrnehmen. Das Projekt ist Teil der vom Wissenschaftsministerium finanzierten Initiative „Sparkling Science“. „Schrift ist in unserem Alltag omnipräsent. Wir wollen die Sichtweise von Kindern einbeziehen, da diese in der aktuellen Debatte rund um das Lesen- und Schreibenlernen oft zu kurz kommt.“

Wenn es also bei Verbund- und Druckschrift kein „Entweder – Oder“ gibt, wie verhält es sich dann mit von Hand versus am Computer Geschriebenem? Läuft es darauf hinaus, dass in den Schulen zunehmend getippt, und nicht mehr geschrieben wird?

In der Montessori-Klasse im 17. Bezirk verbringt jedes Kind ab der 1. Klasse im Rahmen des Unterrichts eine Stunde pro Woche am Computer. In jeder Klasse stehen zwei Computer für rund 25 Kinder bereit. „Nächstes Jahr bekommen wir ein Smart Board (eine interaktive digitale Tafel, die mit einem Computer verbunden ist, Anm.)“, erzählt die Lehrerin. „Ich bin mir ganz sicher, dass das in den nächsten zehn Jahren in jeder Klasse Standard sein wird.“ Dass das in ihrer Schule schon jetzt geplant ist, ist auf das Engagement eines technikaffinen Kollegen zurückzuführen.Lehrern fehlt das Wissen, Schüler sind „Digital Natives“
Usus ist das freilich nicht. Die Schüler sind als „Digital Natives“ – also als Angehörige jener Generation, die mit den digitalen Medien aufgewachsen ist – den Lehrern im Umgang mit PC, Tablet und Smartphone oftmals haushoch überlegen. In Deutschland verbringen fast 16 Prozent der 14- bis 16-jährigen Buben und vier Prozent der Mädchen in dieser Altersklasse täglich viereinhalb Stunden mit Computerspielen.

In Österreich dürften die Zahlen nicht viel anders aussehen. Zählt man Wochenenden und Ferien dazu, verbringen sie also mehr Zeit vor dem Computerbildschirm als in der Schule. Was kann die Schule dem entgegensetzen? „Wir brauchen eine Ganztagsschule, die nicht nur ans Lesen und Schreiben, sondern auch an das Internet heranführt“, so Christian Pfeiffer, Computerkritiker und Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts an der Uni Hannover, in einem Interview.

Auch Kerschhofer-Puhalo sagt: „Eigentlich gehört die Vermittlung des Schreibens am Computer, inklusive ergonomischer Haltung, an die Schulen – aber nicht auf Kosten der Handschrift, und es muss auch nicht alles in den ersten drei Volksschuljahren passieren.“ Auch Medienwissenschafter empfehlen, Kinder und Jugendliche an Computer heranzuführen und sie bei der Anwendung zu begleiten. Doch um dazu in der Lage zu sein, müsste digitalen Medien in der Lehrerausbildung viel mehr Platz eingeräumt und Schulen mit Tablets, PCs und White Boards aufgerüstet werden. Derzeit wird selbst die Deutschmatura, an der bis zu fünf Stunden lang geschrieben wird, oft noch mit der Hand verfasst und anschließend in Schönschrift übertragen – oft das letzte Mal im Leben, in dem ein seitenlanger Text händisch verfasst wird.

Dem Verlust der Handschrift kulturpessimistisch nachzutrauern wäre nichts Neues. So wurden neue Kulturtechniken oftmals erst argwöhnisch beäugt (etwa Sokrates hat einst die Schrift verteufelt) und insbesondere zu Krisenzeiten wird gerne der Untergang der Kultur heraufbeschworen. Stecken wir schon wieder in der Krise? Oder sollten wir die Neuen Medien als Weiterentwicklung von Buchdruck und Schrift anerkennen? Sicherlich hat das digitale Zeitalter Gefahren mit sich gebracht. Doch die Schule sollte vor allem den demokratischen und emanzipatorischen Aspekt der Medien im Blick haben und Kindern helfen, zu mündigen Usern heranzuwachsen. Nach der Schule sollten sie wissen, dass bei Facebook mitgelesen wird und die Welt außerhalb des Flimmerkastens viel zu bieten hat.

Information
Seit 1995 gibt es in Österreich eine vereinfachte Form der früheren Verbundschrift mit weniger Schlaufen, lediglich die Buchstaben sind verbunden. Die Verbundschrift hat 1946 die bis dahin gebräuchliche Kurrentschrift abgelöst. Die Verwendung der Kurrentschrift wurde 1941 von den Nationalsozialisten im „Großdeutschen Reich“ untersagt.