„Von der sexuellen Befreiung der Frau sind wir weit entfernt“

by Bettina Figl

Regisseurin Gabriele Schweiger (c) Gisela Erlacher

Regisseurin Gabriele Schweiger (c) Gisela Erlacher

Regisseurin Gabriele Schweiger über weibliche Schamgefühle, Schönheitsideale und ihren neuen Dokumenatfilm „Viva la Vulva“.

Frau Schweiger, Wie kamen Sie auf die Idee, einen Film über die Vulva zu drehen?

Gabriele Schweiger: Vor einigen Jahren habe ich einen Vortrag eines bekannten Wiener Schönheitschirurgen besucht. Der zeigte Bilder von größeren oder asymmetrischen Schamlippen, und sagte, er verstehe, dass diese Frauen eine OP wollen. Ich habe mir gedacht: „Das schaut ganz normal aus.“ Und dann sagte er, er würde nie eine Frau operieren, die nicht freiwillig zu ihm kommt. Ich frage mich: Wie frei ist diese Entscheidung?

Dieses Interview ist am 21.7.2018 in der „Wiener Zeitung“ erschienen.

Was ist neu an dem Trend zur Schamlippenverkleinerung?

Dass Frauen non-stop verunsichert werden, was ihren Körper betrifft, ist nichts Neues. Aber jetzt geht es bis in den intimsten Bereich. Das neue Schönheitsideal der Vulva sieht so aus: Die kleinen Schamlippen sollen nicht rausgucken und tun sie es doch, werden sie weggeschnitten. Die äußeren sollen schön prall und geschlossen sein und sind sie es nicht, werden sie ein bisschen aufgespritzt – bis sie aussehen wie bei kleinen Mädchen. Das finde ich wahnsinnig bedenklich, denn was sagt das aus, wenn das Geschlecht einer erwachsenen Frau aussehen soll wie bei einem Kind? Klar gibt es auch ein paar erwachsene Frauen, die so aussehen, aber das ist nicht die Mehrzahl. Genauso wie jeder Penis unterschiedlich ist – hell, dunkel, dünn, dick, grad, schief – sind auch die Vulven höchst verschieden. Symbolisch bedeutet dieser Trend: die Frau soll beschnitten werden.

Sie sehen Parallelen zur Genitalverstümmelung?

Ja. In so vielen Ländern gibt es Beschneidung, und im Westen lassen sich die Frauen freiwillig operieren, um einem Schönheitsideal zu entsprechen. Wenn wir uns das umgekehrt vorstellen – Hodenstraffung, Anpassung von Penissen an eine bestimmte Norm – erkennt man erst, wie grotesk das ist. Aber wir sind das schon so gewohnt, dass man sich in der Regel nicht mehr darüber aufregt.

Inwiefern hat Ihr Film eine politische Message?

Ich nehme ganz klar eine feministische Haltung ein. Das Organ ist der Aufhänger, aber es geht auch sehr stark um Frauenrechte und die gesamte politische Dimension. Dass in der westlichen Welt alle sexuell befreit wären, ist eine Mär. Es gibt immer noch viel Unwissen über die Vulva, viel zu wenig selbstbestimmte weibliche Sexualität. In der Regel weiß man gar nicht, wie diese aussehen könnte.

Weil man gar nicht weiß, was man im Bett eigentlich will?

Ich habe für den Film mit sehr vielen Frauen jeden Alters gesprochen. Speziell junge Frauen halten ihr Sexualleben für gelungen, wenn der Mann zufrieden ist. Das ist dieselbe Haltung wie vor 100 Jahren, aber heute fühlen sich Frauen dabei sexuell befreit. Für junge Mädchen ist es ganz normal, ihrem Freund einen zu blasen. Sie informieren sich im Internet, wie man das richtig macht. Und umgekehrt? Da sagen viele Mädchen, sie mögen das gar nicht, denn ihre Vulva könnte ungut riechen oder nicht schön aussehen. Sie ist ihnen peinlich. Es gibt keine positive Bewertung des weiblichen Geschlechts. Von der sexuellen Befreiung der Frau sind wir ganz weit weg.

In Ihrem Film thematisieren Sie, dass es keinen schönen Namen für das weibliche Geschlecht gibt.

Alle Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir: Sie sind mit keiner Bezeichnung zufrieden, denn es gibt nur abwertende oder verkindlichende Namen. Nur eine mochte ihren Namen, sie nennt ihre Vulva „Yoni“. Aber diese Frau hatte schon viele Jahre Tantra hinter sich, was auch nicht der Durchschnitt ist. Lassen Sie mich ein Beispiel aus meiner Kindheit erzählen: Mit etwa 11 Jahren ging ich jeden Tag am Schulweg bei einer aufgelassenen Fabrik vorbei, auf der in großen Buchstaben „Fut“ stand. Ich war damals noch nicht aufgeklärt und kannte den Begriff nicht, aber ich habe mich geschämt, weil ich wusste: das hat etwas mit mir zu tun, das betrifft mich, und es ist grauslich. Ich habe mich geschämt, aber wusste nicht, wieso. Wenn ich jetzt daran denke, kann ich dieses Schamgefühl noch heute fühlen.

Aufklärung passiert heute oft durch Pornos im Internet. Sie haben mit vielen Sexualpädagogen gesprochen – was sagen diese dazu?

Durchschnittlich haben Jugendliche im Alter von 12 Jahren den ersten Porno-Kontakt. Viele Sexualpädagogen sagen: das ist ein riesiges gesellschaftliches Experiment, und es ist nicht klar, wie das ausgehen wird. Manche Jugendliche können gut differenzieren zwischen Porno und Realität und erleben ihren ersten Sex genauso zärtlich und patschert wie Menschen vor 50 Jahren. Andere nehmen das ernster, und glauben, sie müssen das so durchziehen, wie sie es im Porno gesehen haben. Und der Trend zur kindlichen Vulva wird durch Pornos natürlich unterstützt, denn in Pornos wird viel retuschiert.

Was ist das Ziel Ihres Films?

Es geht mir darum, Frauen mehr Selbstbewusstsein zu geben. Sie sollen sich mit ihrem Geschlecht und ihrer Sexualität intensiver beschäftigen.

Ob Pediküre, Gesichtsbehandlung oder Haarentfernung: Derzeit sind viele Frauen intensiv mit ihrem Äußeren beschäftigt. Woher kommt das?

Ich habe eine These: Je mehr Teilhabe sich Frauen erkämpft haben, umso stärker wurde der Druck einem körperlichen Ideal zu entsprechen. Frauen fragen sich ständig: Ist der Körper gut genug, was muss ich machen (lassen), damit er halbwegs ok ist? Das nimmt Selbstsicherheit und kostet viel Geld. Die ganze Energie, die Frauen auf Selbstoptimierung verschwenden, könnten sie einsetzen, um die Gesellschaft zu verbessern. Als ich ein Kind war, bewunderten wir Schauspielerinnen. Aber niemand hat von uns erwartet, dass wir aussehen wie Schauspielerinnen. Unser ästhetisches Empfinden hat sich gewandelt, und dass der Druck auf Frauen irre zugenommen hat, ist kein Zufall. Das ist ein letztes Aufbegehren des Patriachats.

Information
Gabriele Schweiger (geb. 1959) ist eine in Wien lebende Filmemacherin.  Zu ihrem filmischen Schaffen zählen die Dokumentarfilme „Die Lust der Frauen“ und „Die Lust der Männer“ (2010/2012).

Ihr neuer Dokumentarfilm „Viva la Vulva“ soll rund um den Frauentag am 8. März 2019 ausgestrahlt werden.

Regie: Gabriele Schweiger, Produktion: Nikolaus Geyrhalter Ein Film in Koproduktion mit ORF und arte