Wir müssen reden

by Bettina Figl

(c) Stanislav Jenis

Pause in einer jüdischen Schule in Wien. (c) Jenis

Wissen, Anerkennung, Wertschätzung. Wie in der Schule der Fanatisierung von Jugendlichen vorgebeugt werden kann. Junge Männer und Frauen, die in den „Heiligen Krieg“ ziehen und bereit sind, als Märtyrer zu sterben. Jugendliche, die sich Pegida anschließen, um der „Islamisierung des Abendlandes“ etwas entgegenzusetzen. Fußballfans, die unter dem Slogan „Hooligans gegen Salafisten“ islamfeindliche Stimmung verbreiten und vor gewaltsamen Übergriffen nicht zurückschrecken. Und nicht zuletzt junge Muslime, die mit Morden und Geiselnahmen Paris in Angst und Schrecken versetzen.

Dieser Artikel ist am 15.1.2015 in der Wiener Zeitung erschienen.


Wenn Medien versuchen, diese unfassbaren Ereignisse zu erklären, stellen sie Heranwachsende mitunter als tickende Zeitbomben dar. Doch der Eindruck der zunehmenden Radikalisierung Jugendlicher sei falsch, sagt Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW): „Es ist empirisch gesichert, dass Jugendliche deutlich weniger rassistisch, antisemitisch und autoritär sind als Ältere.“ Peham arbeitet seit 20 Jahren im Rahmen der politischen Bildung präventiv an Schulen. Dort trifft er auf Jugendliche in der Adoleszenz. In dieser extrem verunsichernden Lebensphase erleben sie Entfremdung in vielerlei Hinsicht: Entfremdung vom Elternhaus, von der Kindheit, von sich selbst – und sie bekommen den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu Asyl und Fremdheit mit.

Mit diesen Widersprüchen werden sie oft allein gelassen, und es entstehen Wissenslücken, die durch Verschwörungstheorien gestopft werden. „Verschwörungstheorien sind das Einfallstor für alle Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, und die gibt es in allen Teilen der Gesellschaft“, sagt Peham.

Wissenslücken an Schulen
Wie können also Fanatisierungstendenzen von Jugendlichen aufgehalten werden? Zu allererst müssen sie erkannt werden, doch an den Schulen gibt es große Wissenslücken. Zuletzt hat die Lehrergewerkschaft im Ö1-Radio kritisiert, dass es für Lehrer zu wenig Angebote der Fortbildung gibt. Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek hat entgegnet, dass es Angebote gibt, diese aber besser genutzt werden müssten.

Seit etwa einem Jahr verzeichnen die Fortbildungen des DÖW verstärkte Nachfrage von Lehrern und Jugendarbeitern. Lehrer sind vom Wiener Stadtschulrat angehalten, Verdachtsfälle von Dschihadismus zu melden. Peham warnt aber davor, Jugendliche unter Pauschalverdacht zu stellen („Nur weil sich jemand einen Bart wachsen lässt oder plötzlich ein Kopftuch trägt, muss man nicht den Verfassungsschutz rufen“). Provokationen könne man auch einmal ins Leere laufen lassen. Wissenslücken seitens der Lehrerschaft führen zu Verunsicherung und dazu, dass die Jugendlichen sich nicht wertgeschätzt fühlen: Merkt ein muslimischer Jugendlicher, dass sein Gegenüber keine Ahnung vom Islam hat, fühlt er sich nicht anerkannt.

„Oft fällen Jugendliche unfassbare Entscheidungen, da es ihrem Empfinden nach keine Gerechtigkeit und Anerkennung zu geben scheint“, sagt auch Agnieszka Czejkowska von der Karl-Franzens-Universität in Graz. Die Bildungswissenschafterin betont, Schule habe einen Erziehungsauftrag. Doch während Lehrern immer mehr abverlangt wird, wird dafür kein zusätzliches Geld in die Hand genommen: „Das Schlagwort der Stunde lautet ,Kostenneutralität‘. Jeder in dem System weiß: Das kann sich nicht ausgehen.“

Die Politik ist also gefragt. „Wir müssen mit allen Jugendlichen gemeinsam diskutieren, was eine Gesellschaft ausmacht, was verbindliche Werte sind und wo es auseinander gehen kann“, sagt Harald Walser, Bildungssprecher der Grünen. „Die Radikalisierung ist ein Beleg dafür, dass wir in der Schule mit Jugendlichen dringend über Werte reden müssen.“

Ewiger Schulversuch Ethik
Walser sieht sich nach den jüngsten Geschehnissen im Ruf nach einem Ethikunterricht für alle Schüler bestärkt. Derzeit wird dieser lediglich an rund 200 Schulen angeboten, alternativ für jene, die sich vom Religionsunterricht abmelden. An den meisten Schulen gibt es ihn nicht: Während ihre Kollegen Religionsunterricht haben, haben Schüler „o.B.“ (ohne Bekenntnis) eine Freistunde.

„Ethikunterricht schwächt fremdenfeindliche Stereotype ab, begünstigt Toleranz und reduziert Vorurteile“, sagt Anton A. Bucher, Professor für Religionspädagogik an der Universität Salzburg. Ethik wird seit 1997 als Schulversuch geführt und wurde von Bucher evaluiert: „Man kann vom Ethikunterricht erwarten, entsprechende Tendenzen abzuschwächen.“

Bei einer parlamentarischen Enquete vor bald vier Jahren waren sich Politiker und Experten aller Couleur darüber einig, dass es Ethik als Unterrichtsfach braucht, dennoch gibt es bis heute keine Einigung dazu. Die damalige Bildungsministerin Claudia Schmied (SPÖ) hat Ethikunterricht für alle gefordert. Angesichts der derzeitigen Budgetlage dürfte dieses Ziel in weite Ferne gerückt sein, die häufig geforderte Aufstockung von Schulpsychologen oder Investitionen in die Lehrerausbildung werden nicht so bald erfüllt werden. So heißt es aus dem Bildungsministerium: „Wir setzen das Regierungsprogramm, das eine stärkere Betonung der politischen Bildung vorsieht, um. Dafür sind entsprechende Mittel reserviert. Zusätzliche Forderungen, die darüber hinausgehen, brauchen zusätzliche, darüber hinausgehende Mittel.“Die ÖVP hingegen will den Ethikunterricht als Ersatzfach für alle, die sich vom Religionsunterricht abmelden (was dem derzeitigen Schulversuchs-Modell entspricht). Der Theologe Bucher wiederum plädiert für einen gemeinsamen Ethik- und Religionsunterricht für alle: Modelle in der Schweiz hätten gezeigt, diese Begegnung mit anderen würde die eigene religiöse Identität stärken. Er sieht die Kirche als Verhindererin dieses Modells. Doch auch die ÖVP ist dagegen: Religion soll als eigenständiges Fach beibehalten werden, alles andere wäre „nicht klug“, so ÖVP-Bildungssprecherin Brigitte Jank.

Dass Ethik seit 18 Jahren als Schulversuch geführt wird, bezeichnet Walser als „illegal“ – doch Schulversuche haben hierzulande kein gesetzliches Ablaufdatum. „In Österreich ist nichts beständiger als ein Provisorium“, sagt Karl Heinz Auer, der 14 Jahre lang den Ethiklehrgang am Pädagogischen Institut in Innsbruck geleitet hat.

„Man würde der Sache nichts Gutes tun, indem man sagt, Ethik- sei besser als Religionsunterricht. Er ist einfach anders, die Zielgruppe ist eine andere.“ Das Lehrziel sei Toleranz und Demokratie, egal welche Konfession gelehrt wird. Dennoch ist wohl nicht jeder Lehrer liberal eingestellt – es ist zu hören, manche würden im Unterricht Propaganda betreiben. Auer selbst wurde „auf den Boden der Realität geholt“, als er an der Islamischen Schule in Wien unterrichtet hat und von einer Studentin gefragt, wurde ob in Österreich die Blutrache verboten sei.

Das Wiener Gymnasium Anton-Baumgartner-Straße im 23. Bezirk setzt seit 18 Jahren auf Ethik. „Das hat dem Religionsunterricht gut getan“, sagt Direktor Dieter Braunstein. Das Verhältnis zwischen Religion und Ethik betrage 40 zu 60; welches Fach die Oberhand hat, ist im Schwanken begriffen. Dieses Gymnasium ist eine der wenigen Schulen, in der Ethik auch in der Unterstufe auf dem Stundenplan steht: Die 10- bis 12-Jährigen haben wöchentlich eine Doppelstunde „praktisches Philosophieren“.

Hier wird über Familie, Freundschaft und Konfliktlösung gesprochen. „Was mich überrascht: Sehr viele muslimische Eltern melden ihre Kinder vom islamischen Religionsunterricht ab und für Philosophie an. Es ist zu beobachten, dass Muslime ihre Kinder verstärkt einem weltlichen Werteunterricht zuführen“, so Braunstein. „Die Jugendlichen haben großes Interesse, andere Konfessionen kennenzulernen und Sozialtechniken aufzusaugen. Es geht um unverrückbare Prinzipien wie Menschenrechte, das ist die Basis des menschlichen Zusammenlebens.“

Neben gut geschulten Lehrern sind aber auch Berater von außen gefragt, denn viele erleben Schule als autoritäre, Angst machende Institution, die nicht dazu geeignet ist, sensible Themen zu besprechen. Peham erklärt, wie man Jugendliche erreicht: indem man sich für sie und ihre Lebenswelt interessiert. Auf diesem Wege könne man selbst Neonazis das braune Gedankengut austreiben. Peham: „Ich weiß, wie sie ticken, ich kenne ihre Lieder. Dieses Wissen ist wichtig.“