„Achtsamkeit ist ein Tranquilizer“

by Bettina Figl

Hannah Assouline

Hannah Assouline

Meditation ist narzisstisch und geht nicht an die Wurzel des Problems: Theodore Zeldin, Historiker an der Universität Oxford, steht Meditation und Achtsamkeit kritisch gegenüber. Das Interview ist am 10.5.2017 in der „Wiener Zeitung“ erschienen und hier nachzulesen.

Professor Zeldin, Sie sind ein Gegner der Achtsamkeit. Sie sagen, Achtsamkeit halte die Welt vom Denken ab – wie meinen Sie das?

„Theodore Zeldin“: Jeder kann tun und lassen was er will, aber ich kann Ihnen erzählen, warum ich Achtsamkeit nicht befürworte und für kontraproduktiv halte. Achtsamkeit muss regelmäßig praktiziert werden, es ist keine Kur, sondern wie ein Tranquilizer, den man jeden Tag einnehmen muss. Ein Problem an „Mindfulness“-Konzepten ist, dass es das Wissen der Welt nicht vermehrt. Und ohne Wissenszuwachs kann man die Probleme dieser Welt nicht bewältigen.
Meditation löst keine sozialen Probleme, doch diese sind die Ursache von Angst und Stress. Dass man diese sozialen Probleme auf die individuelle Ebene verlagert, ist Teil des Problems. Man geht zum Psychotherapeuten, damit man weniger unglücklich ist. Man hat die Alternative: Man kann hinausgehen, um die Welt zu verbessern. Oder man kann meditieren und sich vor der Welt und ihren unerwünschten Effekten verstecken.

Muss es wirklich das eine oder das andere sein – kann man nicht Achtsamkeit praktizieren und trotzdem die Welt verändern?

Die Menschen, die ich beobachte, vermischen das nicht. Ich kenne jemanden, der im Silicon Valley arbeitet und jeden Tag zehn Minuten meditiert, und dann geht er hinaus in die Konkurrenz-Gesellschaft.

Für Sie sind Meditation und Achtsamkeit also narzisstisch.

Ja. Das Ziel von Achtsamkeit ist es, mehr über sich selbst zu erfahren, und nicht über andere. Ich denke aber, dass es unmöglich ist, sich selbst zu kennen. Wenn man sich nur auf seine eigenen Probleme konzentriert, limitiert das, und es steht im Gegensatz zu Bildung. Es löst nicht die Ursache der Probleme, die man bekämpfen will. Zum Beispiel Arbeit: Es wird immer schwieriger, einen Job zu bekommen. Hat man eine gute Ausbildung, ist es schwierig, eine Arbeit zu bekommen, die diesen Fähigkeiten entspricht.

Diese Unehrlichkeit ist Teil des Finanzsystems. Die westliche Zivilisation steckt in einer Krise, mit all dem Populismus, der Intoleranz. Als Historiker denke ich daran, dass im 16. Jahrhundert China und Indien die größten Industrienationen waren. Diese Nationen kommen zurück, und wir dürfen nicht denken, dass diese die westliche Zivilisation immer die dominierende sein wird. Mindfulness blendet diese großen zivilisatorischen Probleme aus, und es verstümmelt das Erbe einer indischen Tradition. Die Mindfulness-Erfinder – unzufriedene amerikanische Hippies – haben mit Meditation ein Element des Buddhismus herausgepickt. Aber das, was die buddhistische Lebensweise ausmacht, haben sie eliminiert: Das Leiden zu akzeptieren oder Verzicht und die Notwendigkeit, sich dem weltlichen Leben zu entziehen. Diese ganze Philosophie wurde ausgespart, und stattdessen haben sie amerikanische Ideen daruntergemischt, etwa das Ziel, reich zu werden.

Mindfulness ist inzwischen eine Milliarden-Dollar-Industrie und verfehlt das, was wir von der indischen Zivilisation lernen können. Achtsamkeit ist eine Ablenkung, fast wie die Unterhaltungsindustrie, fast als würden wir abends Fernsehen um zu vergessen, wie öd unser Arbeitsalltag ist.

Meditation sagt man nach, dass sie den Kopf frei für neue Ideen macht.

Es gibt ja verschiedene Arten von Meditation. Es gibt Meditation, die den Kopf leert, womit man ruhig wird. Und dann gibt es Meditation, bei der es ums Denken geht. Und das ist eine menschliche Fähigkeit, die vielen zu schmerzhaft und zu schwierig ist. Es gibt neurowissenschaftliche Studien, die besagen, Meditation würde die Kreativität steigern. Doch die Idee, dass Menschen in einem Sessel sitzen und kreativ werden können, ist falsch. Menschen werden schöpferisch durch Interaktionen mit anderen Menschen, wenn sie sich Wissen außerhalb ihres Bereiches aneignen.

Welche Alternative schlagen Sie vor?

Das Glücklichsein, die Religion des 20. Jahrhunderts, ist irreführend. Wie kann man glücklich sein, wenn es so viel Leid, Krieg, Dummheit auf der Welt gibt? Wenn man sich nur um sich selbst kümmert, ist man ein Dummkopf. Wenn man sein eigenes Glück sucht und die Welt dabei vergisst, läuft etwas falsch.

Oft heißt es, man müsse zuerst mit sich selbst im Reinen sein, sich selbst lieben, um anderen helfen zu können. Was halten Sie davon?

Man soll sich nicht gut fühlen. Anstatt auf sich selbst neugierig zu sein, sollte man neugierig auf andere Menschen sein. Das 20. Jahrhundert hat die Aufmerksamkeit auf das „Ich“ verlagert, und Wien und Sigmund Freud sind dafür zu einem großen Teil verantwortlich. Man bekommt gesagt, dass man das ist, wozu einen die Eltern gemacht haben. Anstatt zu fragen „Wer bin ich?“ sollte man jedoch fragen: „Wer bist du?“. Und dabei keine Angst haben. Anstatt Konsens als Ziel vor Augen zu haben, sollten wir akzeptieren, dass es Unterschiede gibt. Alle wissenschaftlichen Errungenschaften wurden erzielt, indem man die Dinge nicht als das hinnimmt, was sie vorgeben zu sein. Man findet neue Lösungen nur, indem man mit anderen Menschen spricht. Für mich ist Konversation ein gutes Instrument, um sich von sich selbst zu befreien.

Kommen wir zurück zur Achtsamkeit an der Schule. Was ist hier Ihre Alternative?

Ich bin dafür, dass man Gespräche zwischen Schülern und älteren Menschen fördert. An der Schule sollten wir Verbindungen zur Welt herstellen. Auch an den Unis lernen Studierende nichts über das Leben. Wir müssen Bildung neu denken, und Geschichte sollte die Imagination provozieren. Mit Donald Trump als US-Präsidenten sind die Probleme der Welt sehr dringlich, und auch beim Brexit sehen wir: Es braucht nur wenige Wähler, und es ist vorbei. Wir brauchen neue Lösungen und dürfen uns nicht vor der Welt verstecken.