„Allein schafft das fast niemand“

by Bettina Figl

Ab dem 18. Lebensjahr verlieren junge Erwachsene, die den Großteil ihres Lebens in einer sozialen Einrichtung verbracht haben, oft jede Unterstützung. Das soll sich nun ändern. Ein Besuch in Wiens einziger Notschlafstelle für Jugendliche. Dieser Artikel ist am 11.3.2021 in der Wiener Zeitung erschienen.

(c) Milena Krobath

Die Augen rot vom Kiffen. Das Elternhaus alles andere als liberal. Er weiß nicht, wo er die Nacht verbringen soll. Nach einem langen Tag im Park traut sich Kristijan, 15 Jahre alt, nicht mehr nach Hause. Also klopft er zum ersten Mal an die Tür von „a_way“.

Hinter einer unscheinbaren Hausfassade im 16. Bezirk, einen Steinwurf von der Lugner City entfernt, befindet sich Wiens einzige Notschlafstelle für Minderjährige. Gewalt, Missbrauch, psychische Erkrankungen in der Familie, Streit mit den Eltern oder eine Mischung aus alldem: Die Gründe, warum Jugendliche hier unterkommen, sind sehr unterschiedlich. Privatschüler, die von den Eltern eingesperrt werden, crashen hier genauso wie Pärchen unterschiedlicher Ethnizität, denen der Umgang von ihren Familien untersagt wurde. Was alle eint, ist, dass ihre Biografien löchrig sind und sie in ihrem jungen Leben schon viel durchgemacht haben.

Ein prall gefüllter Obstkorb im Aufenthaltsraum, in den Zimmern sind die 18 Betten frisch überzogen: Der Zufluchtsort für Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren, zumindest für bis zu fünf Tage pro Monat, vermittelt bemühte Heimeligkeit. Doch über 18-Jährige müssen nach der ersten Nacht mit dem Wiener Service für Wohnungslose (P7) abklären, ob sie bleiben dürfen.

„Care Leaver“ sind Jugendliche, die nicht mit ihren Familien, sondern in einer sozialen Einrichtung aufwachsen und die diese mit der Volljährigkeit verlassen müssen. Die Plattform Jugendhilfe 18+ fordert eine gesetzliche Verankerung des Rechts auf Unterstützung von „Care Leavern“ über die Volljährigkeit hinaus. Fast alle österreichischen Organisationen, die sich um gefährdete Kinder, Jugendliche und ihre Rechte kümmern, sind Teil dieser Plattform. Care Leaver sollen demnach in kritischen Situationen wieder stationär aufgenommen werden können – ähnlich wie manche junge Erwachsene in Krisen kurzfristig in ihr Elternhaus zurückkehren. Auch das Komitee für Kinder- und Jugendgesundheit im Sozialministerium kritisiert die starre Altersgrenze in der Jugendhilfe.

Politischer Wille vorhanden

Ab dem 18. Lebensjahr sind „Care Leaver“, die den Großteil ihres Lebens in einer sozialen Einrichtung verbracht haben, de facto auf sich selbst gestellt. Die meisten Jugendlichen, die mit ihren Familien aufwachsen, können heute aber bis weit ins Erwachsenenalter auf Unterstützung zählen. Eine klare Benachteiligung, meinen Sozialarbeiter: „Die Gesellschaft hat sich verändert. Im Schnitt verlassen junge Menschen heute erst mit 25 Jahren ihr Elternhaus. Care Leaver werden aber oft mit 18 Jahren in die Selbständigkeit entlassen. Allein schafft das fast niemand“, sagt Thomas Adrian, Leiter der Caritas-Jugendnotschlafstelle „a_way“.

(c) Milena Krobath

Die Caritas und andere soziale Organisationen fordern daher die Ausweitung der Unterstützung über die Volljährigkeit hinaus. Politischer Wille ist, zumindest auf dem Papier, vorhanden: In ihrem Programm bekennt sich die Wiener Stadtregierung zu einer Übergangsphase und Betreuung von Care Leavern bis zum 21. Lebensjahr. Vorarlberg und Salzburg haben die Betreuung bereits bis zum 24. Lebensjahr ausgeweitet und geben den jungen Menschen Gutscheine mit, mit denen diese wieder Unterstützung bekommen können. Tirol und Kärnten planen Ähnliches, und auch im Programm der Bundesregierung ist die Weiterführung der Betreuung von Care Leavern nach dem 18. Lebensjahr fixiert.

Dass junge Erwachsene mit der Selbständigkeit oft überfordert sind, zeigt sich auch anhand Kristijans Lebensgeschichte. Fünf Jahre sind seit seiner ersten Nacht in der Notschlafstelle vergangen. Heute sitzt der 20-Jährige mit tätowiertem Nacken im Aufenthaltsraum von „a_way“, wo er derzeit wieder einmal wohnt.

Streit und Gewalt sind Alltag

Bemerkenswert stringent erzählt er von seinem Leben, das bisher so gar nicht geradlinig verlaufen ist: Mit zehn Jahren bringt ihn sein Vater ohne Einverständnis der Mutter von Serbien nach Wien. Von da an lebt er bei seinem Vater und dessen neuer Frau. Streit und Gewalt stehen – wie in vielen Familien wohnungsloser Teenager – auf der Tagesordnung. Eines Tages kommt es zum endgültigen Bruch und er läuft von zu Hause weg. Mit 16 Jahren treibt er sich, wie er sagt, „mit den falschen Leuten herum“.

Bald darauf landet er in der Justizanstalt Josefstadt. „Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin“, erzählt Kristijan und blickt zu Boden. In der Gefängnisküche entdeckt er seine Liebe zum Kochen. „Ich habe mich in der Küche sofort wohlgefühlt, bin gefördert worden und habe gemerkt: Ich kann das.“ Nach einem halben Jahr wird er aus der Haft entlassen, bekommt einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft und beginnt eine überbetriebliche Lehre als Koch.

Zurück an den Start

Kurz vor dem Lehrabschluss, mit 18 Jahren, kratzt er sein Erspartes zusammen und bezieht seine eigenen vier Wände. „Die Wohnung hatte sogar einen Balkon und war ganz in Schwarz-Weiß eingerichtet“, erzählt er stolz. Oft ist seine Freundin bei ihm, es ist die erste große Liebe, doch die junge Frau hat ein Drogenproblem und tut ihm nicht gut. Als er sich von ihr trennt, fällt er in ein Loch und bricht die Lehre ab. Kurz bevor er Anspruch auf eine Gemeindewohnung bekommen hätte, verliert er die Wohnung.

Es folgen wieder einige Monate bei „a_way“, er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs in serbischen Grills durch. Dort sind die Arbeitsbedingungen hart, doch er betont, dass ihn das nicht stört: „Wenn ich arbeite, vergesse ich alles um mich herum. Fleisch und Geschmack, das ist genau meins.“ Schließlich findet er einen Job in einem Restaurant und mit Hilfe von Jugend am Werk nimmt er seine Lehre wieder auf. Er besucht die Berufsschule, wo er im Unterricht mit seiner aktiven Mitarbeit auffällt.

Dann kam Corona, und wie so viele Menschen in der Gastronomie verliert Kristijan von einem Tag auf den anderen seinen Job, und der Online-Unterricht der Berufsschule fällt ihm schwer: „Es gibt da keine Möglichkeiten nachzufragen, ich hatte auch keine Bücher.“ Seine Aufgabenblätter bleiben leer, er wird in zwei Fächern nicht beurteilt. Also heißt es wieder einmal zurück an den Start.

„Ohne Lehrabschluss hat er den Status eines Hilfsarbeiters“, seufzt der Sozialarbeiter Adrian, und erzählt: „Menschen wie Kristijan hat die Corona-Krise wie eine Wucht getroffen.“

Geschwister oder Paare können auf Wunsch gemeinsam untergebracht werden. Wer will, kann sogar sein Haustier mitnehmen. In „a_way“ wird Umgang auf Augenhöhe großgeschrieben. Putzen und kochen müssen die Jugendlichen aber selbst, sie sollen Verantwortung übernehmen.

Derzeit ist die Notschlafstelle aufgrund er Corona-Krise täglich den ganzen Tag geöffnet. Die Rückkehr zum 24-Stunden-Betrieb nur am Wochenende sei wichtig. Es tue den Jugendlichen nicht gut, wenn sie immer nur hier drin sind, sagt Adrian.

Kristijan, der aufgrund seiner serbischen Staatsbürgerschaft keinen Anspruch auf Mindestsicherung hat, will endlich auf eigenen Beinen stehen. Er sucht nun einen Job, am liebsten in der Gastronomie, und eine Wohnung. In Zeiten wie diesen wahrlich keine leichte Aufgabe.