Amazonen auf vier Rollen

by Bettina Figl

(c) Luiza Puiu

(c) Luiza Puiu

Punkrock-Attitüde, Rangeleien, keine Spur von braven Mädchen von nebenan: Roller Derby ist ein Vollkontaktsport, der auf Rollschuhen und vorwiegend von Frauen ausgeübt wird.

Multimedia-Reportage: http://wienerzeitung.at/rollerderby

Punkrock dröhnt in voller Lautstärke aus den Lautsprechern, als Knock Out Nora, Karma Kalashnikov und ihre Kolleginnen einrollen. Jede der jungen Frauen auf Rollschuhen trägt Helm, Leggings, Mundschutz.


Die Kriegsbemalung an den Wangen soll die Gegnerinnen einschüchtern, die Frontfrau schwenkt die Vereinsfahne. Das Logo: eine Mucki zeigende Amazone, von deren Bizeps ein Paar Rollschuhe herabbaumeln. Es ist das dritte Heimspiel der Vienna Roller Derby Mannschaft der Saison.

In Wien-Liesing treten sie gegen die Roller Girls aus Dresden an. Zu Beginn des Matches ziehen die Spielerinnen beider Teams erhobenen Hauptes in die Sporthalle ein, begleitet von Pfiffen und Jubel von der Zuschauertribüne.

Die ausgelassene Wettkampf-Atmosphäre zieht sofort in ihren Bann, 60 Minuten lang wird das unübersichtliche Spektakel mit großen Augen mitverfolgt – und den Blick von diesen starken, oftmals tätowierten Kämpferinnen zu lassen, ist fortan sowieso keine Option mehr.

Die punkige Inszenierung gehört zum Derby-Style dazu und vernebelt im ersten Augenblick den Blick auf das, was Roller Derby ausmacht: Hinter dem angriffslustigen, körperlich anstrengenden Sport steckt viel Training, hinter dem augenscheinlich unübersichtlichen Tumult viel Taktik und Strategie.

Knie gebeugt, Oberkörper nach vorne gelehnt: Zehn Frauen harren in Angriffspose aus, bis ein scharfer Pfiff ertönt. Das Spiel beginnt, es wird gerempelt, gerangelt und gestoßen, was das Zeug hält. Die Szene erinnert an Rugby oder American Football, aber Roller Derby, dieser Vollkontaktsport auf Rollschuhen, wird ohne Ball gespielt.

Eine der Frauen boxt sich durch, wie so oft ist es die Jammerin Victoria Siempre, die in der ovalen Bahn davonskatet.

Jede Mannschaft besteht aus je einer Jammerin und vier Blockerinnen. Die Jammerin macht Punkte, indem sie die gegnerischen Spielerinnen überholt. Für jede Gegnerin, an der sie vorbeiflitzt, gibt es einen Punkt. Die Gegnerinnen versuchen, sie aufzuhalten.

Dabei ist vieles erlaubt, aber nicht alles: Mit der Hüfte oder der Schulter darf geblockt werden, Rücken, Arme und Beine sind tabu. Schön langsam versteht man, warum das Regelwerk über 70 Seiten umfasst. Ein Bout – so heißt das Match – besteht aus zwei Halbzeiten und dauert, Pause nicht mitgerechnet, 60 Minuten.

Aus den Lautsprechern dröhnt „Bad Reputation“ von Joan Jett, zwei Frauen am Mikro heizen mit ihren Durchsagen die Stimmung zusätzlich an. Jeder Durchgang, Jam genannt, dauert maximal zwei Minuten, kann aber von der Leadjammerin aus taktischen Gründen früher abgebrochen werden. Es folgt eine halbe Minute Pause, anschließend wird neu aufgestellt, und neue Spielerinnen kommen auf das Spielfeld.

In der Pause legen die Fearleader, die männlichen Cheerleader der Vienna Roller Derby-Mannschaft, akrobatische Verrenkungen hin.

Nachdem die Männer Pompon-wedelnd mit Hüftschwung in die Spothalle eingezogen sind, geben sie eine genau einstudierte Choreografie mit Saltos, Backflips zum Besten, den Abschluss des unterhaltsamen Spektakels bildet eine menschliche Pyramide.

Die Cheerleader der Wiener Roller Girls nennen sich „Fearleader“ und lieben das Spiel mit den Klischees.

„Beim Roller Derby üben Frauen diesen körperbetonten, harten Sport aus. Wenn wir Männer die Cheerleader sind, passt das gut.“
Der 37-jährige Wissenschafter, im Derby-Kontext nennt er sich „Candy“, ist einer von dreizehn Fearleadern.

Ab der zweiten Halbzeit stehen sie am Rande der Bahn und feuern ihr Team an – mit Erfolg, die Frauen vom Vienna Roller Derby schlagen die Dresden Pioneers mit 164 zu 139 Punkten.

Die Männer mit Stulpen und Stirnband sind ein Wiener Unikum, andere Teams dürfen sich kaum über männliche Unterstützung in Hotpants freuen.
Dass hinter den akrobatischen Einlagen viel Training steckt, spielen sie kokett herunter:

„Wir müssen natürlich schauen, dass unsere Hosen, Stutzen und Stirnbänder gut sitzen. Auch das braucht Vorbereitung.“ (Candy)

In seinen Augen flackert Ironie auf, und wie so oft spricht Kollege Fearcounter seinen Satz zu Ende: „Alles steht und fällt mit dem Outfit.“

Bedauern sie es, dass sie nicht mitspielen dürfen? „Ich fände es spannend, aber es würde einen wichtigen Aspekt des Sports zerstören.

Es geht ja darum, dass wir der männliche Gegenpart sind. Probieren würde ich es schon gerne, aber wahrscheinlich wäre es mir zu gefährlich“, sagt Fearcunter, und Candy fällt ihm ins Wort: „Also mir wäre es zu gefährlich. Wir wackeln lieber mit dem Hintern.“

Roller Derby kann auf eine lange Tradition zurückblicken: Das erste – damals männlich besetzte – Derby fand 1935 in Chicago statt. Doch bis der Sport den Sprung über den Atlantik schaffen sollte, dauert es noch lange.

In den Anfangsjahren skaten 25 Teams 57.000 (!) Runden auf einer abgeschrägten, ovalen Bahn. Wer das zuerst schafft, hat gewonnen. Die harten Rempeleien führen jedoch bald dazu, dass viele Spieler aufgrund von Verletzungen oder totaler Erschöpfung den Sport aufgeben. Roller Derby ist vorerst am Ende.

In den frühen 1940er Jahren wird das Regelwerk überarbeitet, die Rangeleien werden wie im Show-Wrestling einstudiert und inszeniert. Das zieht die Massen an, ausverkaufte Stadien von über 50.000 Fans und Übertragungen im Fernsehen sind keine Seltenheit.

In den 1970er Jahren verschwindet der Sport von der Bildfläche, erst 1999 kehrt er mit den Riot Grrrls zurück. Diese subkulturell-feministische Bewegung, deren fixer Bestandteil Hardcore-Punkbands wie Bikini Kill und Le Tigre waren, ging von Olympia im US-Bundesstaat Washington aus und hat die heutige Form von Roller Derby stark beeinflusst.

Im 21. Jahrhundert kommt der feministische Sport auf Rollschuhen schließlich nach Europa: 2006 gründen sich erste Teams in London und Stuttgart, heute gibt es über 200 Mannschaften in ganz Europa.

Viele Länder haben inzwischen Nationalteams, 2011 fand im kanadischen Toronto die erste Roller Derby-Weltmeisterschaft statt.

Die Wiener Roller Derby Mannschaft gibt es seit vier Jahren. Dass die Spielerinnen klingende Namen wie Wargina, Wipeout oder Dr. Callie Collision tragen, hat Tradition.

Immer schon pflegten Spielerinnen ihr Alter Ego auf Rollschuhen, und dass die Namen martialisch klingen, beruht mitunter auf einer wahren Begebenheit: „Mittlerweile passt der Name ganz gut“, sagt Knock Out Nora und grinst.

Die Spielerin mit blonden Stirnfransen und Glitzersternen an den Wangen erzählt von dem blauen Auge, das sie sich geholt hat, als sie mit einer Gegnerin bei einem Spiel in Finnland zusammengekracht ist. Dass der Sport brutaler ist als andere, glaubt die Studentin aber nicht:

„Wir trainieren acht bis zehn Stunden pro Woche. Wir machen viel Muskelaufbautraining, das schützt Knochen und Bänder.“

Dennoch: Stürze und Zusammenstöße passieren, vor allem im Wettkampf, im gefühlten Sekundentakt. Vor dem Start des Bouts kontrollieren die Schiedsrichter genau, ob Zahnschutz, Helm, Knie- und Ellenbogenschoner ordentlich sitzen.

Weltweit lautet das Derby-Prinzip „DIY“, also „Do It Yourself“. Sponsoring, Presse, Merchandise: Auch in Wien ist jede Spielerin in einem Komitee aktiv.

Der Verein finanziert sich und die Reisen über Crowdfunding und Mitgliedsbeiträge. „Wir alle machen das freiwillig. Am meisten Spaß macht zu sehen, wie viel die Leute in ihrer Freizeit reinstecken“, sagt Nora.

Zweimal im Jahr werden Neulinge aufgenommen, sie trainieren vier Stunden pro Woche, je zwei Stunden auf Rollschuhen, zwei Stunden Ausdauer und Kraft. Derzeit stehen 35 „Newbies“ in den Startlöchern.

In einem halben Jahr entscheidet sich beim „Minimum Skills Test“, ob sie für den Sport bereit sind. Das harte Training bringt jedenfalls nicht nur blaue Flecken, sondern schweißt auch zusammen: „Wir sind sehr eng, wie eine zweite Familie“, sagt Dr. Callie Collision, und:

„Mir ist Roller Derby sehr wichtig. Ich studiere, ich arbeite, und ich spiele Roller Derby. Roller Derby kommt bei mir immer an erster Stelle.“

Aggressivität, Strategie, Taktik: Beim Roller Derby bewegen sich Frauen auf männlich dominiertem Terrain. Steckt dahinter ein feministischer Auftrag?

„Es hat allein schon etwas Feministisches, wenn man als Gruppe von Frauen beschließt, etwas auf die Beine zu stellen“, sagt Victoria Siempre. „Wir sind nicht die klassischen lieben Mädchen von nebenan. Wir sind stolz und gerne wildere Frauen.“

Die 29-jährige Wissenschafterin ist im Spiel sehr präsent, Runde für Runde kämpft sie sich an der gegnerischen Mannschaft vorbei. Sie ist vom Boxen zum Roller Derby gekommen: „In den Boxclubs waren die Leute nicht unbedingt so, dass ich mit ihnen abhängen wollte. Beim Roller Derby ist es eine gute Mischung aus einer tollen Frauencommunity und einem aufregenden Sport, bei dem wir mitbestimmen.“

Dr. Callie Collision gefällt an dem Sport, dass er das gegenwärtige Schönheitsideal unterwandert: „Nicht dünn zu sein ist ein Vorteil, weil man viel Platz einnimmt und die gegnerische Jammerin nicht leicht an dir vorbeikommt. Mit einem kleinen, dünnen Körper wiederum kommt man als Jammerin gut vorbei.“

Frauen auf Rollschuhen

Seit 2004 gibt es die Women’s Flat Track Derby Association (WFTDA), in der über 14.000 Roller Girls registriert sind.

Zwar gibt es seit 2007 mit der Men’s Roller Derby Association (MRDA) ein männliches Pendant – doch Männer sind im Roller Derby nach wie vor eine Rarität.

Wieso wird ein vergleichsweise harter Sport fast ausschließlich von Frauen gespielt? Womöglich weil es mit Rugby und Football bereits viele Vollkontaktsportarten für Männer gibt.

Vielleicht werden sie aber auch durch die eher weiblich konnotierten Rollschuhe abgeschreckt. „Roller Derby ist ein Sport, in dem wir als Frauen stark sein können“, sagt Victoria Siempre vom Wiener Team.

Doch für die meisten der 55 aktiven Vereinsspielerinnen macht der brutale Vollkontakt nur einen Teil des Reizes aus:

„Roller Derby ist nicht nur ‚Hau drauf‘. Er besteht aus viel Taktik und Strategie, und damit setze ich mich gerne auseinander. Ich brauche keinen Ausgleich, weil ich so aggressiv bin“