Schmerz? Oder süßer Schmerz?

by Bettina Figl

(c) Martina Velicky

Die heilige Stadt Rishikesh im Norden Indiens gilt als Welthauptstadt des Yoga. Bericht von einem Selbstversuch, sich in 28 Tagen zur Yogalehrerin ausbilden zu lassen. Ein junger Inder packt mich an der Schulter, presst sein Knie in meinen Rücken und dreht dessen oberen und den unteren Teil in zwei verschiedene Richtungen. Ich komme mir vor wie ein Stück nasse Wäsche, das ausgewunden wird. 15 angehende Yogalehrer harren in der Rumpfdrehung aus. Lehrer Prashanth – strahlend weiße Zähne, Ansatz eines Schnauzers und goldener Ring im Ohr – zählt in melodischem Singsang: „Eiiight, niiine, teeen“; das sind keine Sekunden, sondern Yogi-Atemzüge, also halbe Ewigkeiten. Wir sitzen am Boden, die Beine überkreuz, und während sich meine Gesichtszüge immer mehr verkrampfen, fixiert mich Prashanth mit seinem breiten Eddie-Murphie-Lächeln und fragt: „Schmerz? Oder süßer Schmerz?“

Diese Reportage ist am 25.4.2015 im „Extra“ in der „Wiener Zeitung“ erschienen.

Einatmen und strecken, ausatmen und drehen: Der ziehende „süße Schmerz“ ist Ziel der Übung – im Gegensatz zum plötzlichen, stechenden Schmerz. Was ist Yoga? Diese Frage hat mich nach Indien geführt. An Tag eins erfahren wir: Alles ist Yoga. Zuerst lernen wir zu atmen. Denn mit unserer flachen Atmung sei uns kein langes Leben beschieden, wird uns erklärt. Und anders als im Westen landläufig geglaubt wird, sollen die Asanas (Sanskrit für Körperübungen) auch nicht dazu führen, so fit und flexibel wie möglich zu werden. Sie sollen lediglich ermöglichen, in der Meditation – dem wichtigsten Aspekt von Yoga – schmerzfrei auszuharren.
 
Die Knie schmerzen

Davon bin ich weit entfernt. Den ganzen Tag im Schneidersitz, ständig schlafen die Beine ein, die Knie schmerzen. Dass diese Position „easy pose“ heißt, klingt wie ein schlechter Witz. Wie so oft dieser Tage denke ich an die Worte einer Freundin vor der Abreise: „Du fährst nach Indien? Auf ein Eso-Bootcamp? Fahr doch nach Italien, dort gibt es gutes Essen, tollen Wein und schöne Männer.“ Zumindest zwei dieser Punkte erfüllt auch der Indien-Trip. Aber dazu später.

Rishikesh liegt im Norden In-diens, unweit der Grenze zu Nepal und Tibet, und gilt als Welthauptstadt des Yoga. Die Kleinstadt ist mit 60.000 Einwohnern etwa so groß wie Villach. Und doch unvergleichbar: In einer Haschisch-Wolke sitzende Sadhus – „falsche Heilige“ – grüßen mit einem entspannten „Hare Om, Baba“; Inder mit Bauchläden voller Farbtöpfchen malen Touristinnen Bindis – kunstvoll-bunte Punkte – zwischen die Augenbrauen, wo sich das energetische dritte Auge befinden soll. An fast jeder Straßenecke dampft heißer Chai, ein in Milch aufgekochter Gewürztee, in großen Bottichen.

Die Stadt ist von den sattgrünen Vorläufern des Himalaya umringt, und durch den Ganges in zwei Teile gespalten. Der heilige Fluss der Hindus zieht hier ausgedehnte Schlangenlinien, ist glasklar und so wild, dass es die Paddler in den Rafting-Booten durchbeutelt. Ein Bad in „Mutter Ganges“ soll Leben spenden, verjüngen und freimachen. Das kann man im chaotischen Stadtteil Lax Manjula gut gebrauchen: Auf der Hängebrücke drängeln sich Mopeds hupend an Touristen, Affen und Kühen vorbei, alle paar Meter will jemand Gebetsketten, Postkarten oder Zuckerrübensaft verkaufen.

Hinduistische Pilger legen in der heiligen Stadt oft einen Zwischenstopp auf der Reise zur 250 Kilometer entfernten Gangesquelle ein. In den unzähligen Ashrams – klosterähnlichen Meditationszentren, wörtlich: „Ort der Anstrengung“ – und Yogaschulen sind Touristen aus dem Westen aber längst in der Überzahl.

Ich habe mich für eine Schule mit indischen Lehrern, kleinen Klassen und prall gefülltem Stundenplan entschieden: Um 6 Uhr beginnen wir den Tag mit Sonnengrüßen, drei Stunden lang Hatha-Yoga und Pranayama (Atemübungen). Zum Frühstück um 9 Uhr 15 – es fühlt sich an, als wäre bereits der halbe Tag vergangen – gibt es Kurkuma-Nudeln, Milchreis und Chai. Vor dem Mittagessen Anatomie, danach Philosophie, dann Ashtanga.

Singen und keuchen
Diese dynamische Form des traditionellen Hatha-Yoga wird von Vipin unterrichtet. Der junge Inder mit Fönfrisur und Popeye-Armen sieht aus, als wäre er einem Bollywood-Film entsprungen. Jeder seiner Sätze endet mit dem typisch indischen Kopfwackeln und jede seiner Stunden beginnt mit dem Mantra: „Vakratunda Mahakaja . . .“ Erst singen, dann keuchen: In Ashtanga wird jede Position nur fünf Ujjayi-Atemzüge lang gehalten (das keuchende Ausatmen soll den Herzschlag verlangsamen), doch die vielen Sprünge und Liegestütze machen die Yogahalle zur Kraftkammer. Der Tag geht mit Schlafyoga zu Ende: Wir liegen in Savasana, der Totenstellung, und ein Swami – der Titel für einen geachteten Guru – brummt uns mit einem langgezogenen „Relaaax“ in den Halbschlaf. Während wir tiefere Bewusstseinsebenen erreichen sollen, überlege ich, ob ich die Moskitos, die um mein Ohr schwirren, erschlagen darf oder sie gleichmütig erdulden muss.

Es sind nicht die einzigen Tiere, die sich zu uns verirren: Einmal flattert ein Kolibri durch die Yogahalle, regelmäßig nähern sich Affen übers Dach, und durch die umliegenden Sträucher stolzieren Pfaue, die nächtens in katzenähnliches Gejammer einstimmen. Angeblich kommen manchmal sogar Elefanten in die Nähe der Yogaschule – doch für die riesigen Fladen, die den Weg zu unserer Schule säumen, sind wohl die omnipräsenten Kühe verantwortlich . . .

Nach dem kargen Abendessen – Reis, Spinatsuppe, Tofu – fallen wir todmüde ins Bett. Es ist etwa 20 Uhr. Am nächsten Morgen werden wir einander wieder detailliert von unseren Magen-Darm-Beschwerden und den Schmerzen in Rücken und Gelenken berichten. Was bringt 15 Menschen aus aller Welt, die meisten noch keine 30 Jahre alt, dazu, einen Monat lang ein Leben zu führen, das im Alter ohnehin auf sie wartet?

„Ich will herausfinden, wer ich bin“, erzählt der 20-jährige Austin mit indianischen Wurzeln in breitem Südstaaten-Akzent. Manche wollen ihre Meditationspraxis vertiefen, andere ihren Körper auf Vordermann bringen (was kaum jemand notwendig hat: Unter uns weilen ehemalige Turnerinnen, ein Rafting-Lehrer und eine Zirkusakrobatin). Fast alle sind Weltenbummler, die ihre Reisen mit Yogaunterricht finanzieren wollen. Vor dem Dolce Vita kommt der Verzicht: kein Fleisch, kein Alkohol, keine Drogen. Umso ausführlicher werden Erfahrungen mit halluzinogenen Pilzen und Kakteen ausgetauscht, und amouröse Begegnungen finden ebenfalls nur im Kopf statt: Prashanth und Vipin gehören längst zu unseren Lieblingsthemen . . .

Kotzen und spülen
Doch der Alltag eines Yogi lässt nicht viel Platz für Träumereien. An unseren zwei freien Tagen steht Reinigung am Programm: Wir trinken Salzwasser und kotzen, als wäre es die Reling eines Schiffs, kollektiv vom Flachdach. Zur Spülung der Nasennebenhöhlen leeren wir Salzwasser in ein Nasenloch, damit die Rotz-Wasser-Mischung beim anderen Loch herausrinnt, und wir führen einen Schlauch in die Nase ein, bis dieser beim Mund herauslugt. Die freien Stunden werden ausgekostet: Wir sitzen bei cremigen Mango Lassis am Ufer des Ganges, kosten uns durch köstliche Curries, und lassen uns zu Spottpreisen massieren. Die vier Wochen – 200 Unterrichtsstunden – vergehen wie im Flug, in der letzten Woche unterrichtet jeder von uns eine Yogaklasse. Nach dieser „Abschlussprüfung“ bekommen wir das international anerkannte Zertifikat, das uns ermöglicht, Yoga zu unterrichten.

„Als ich von Zum Yogalehrer in einem Monat gehört habe, dachte ich, das muss ein Schwindel sein“, sagt Joaquin, ein schlaksiger Argentinier, bei der Zertifikatsverleihung demütig. Und für manche ist es das auch, weshalb nicht alle Yogaschulen die Lehererausbildung im Express-Verfahren anbieten.

Das Himalayan Yog Ashram abseits des innerstädtischen Trubels Rishikeshs ist eine dieser Schulen. „Ich glaube nicht an Yoga-Lehrerausbildungen“, erklärt Yogi Ram, ein großgewachsener Inder Anfang 40. Er trägt safranfarbenes Leinen, sitzt auf dem Balkon seines kleinen Ashrams und erzählt: Seine Schüler bleiben bis zu einem halben Jahr, und am Ende bekommt niemand ein Zertifikat. Stattdessen gibt es wenig Essen, wenig Unterricht und wenig Ablenkung: Der Ashram wird nur verlassen, um im Wald zu spazieren. „Wenn man in die Stadt geht, kommt man mit vielen Eindrücken zurück. Wie soll man da meditieren?“

Beatles-Ashram
Rishikesh gilt seit Tausenden von Jahren als Ort der Kontemplation. Wo bis in die 1970er Jahre vor allem Mönche lebten und der Dschungel gedieh, reiht sich heute ein Souvenirshop an den nächsten. Das änderte sich allmählich, als 1968 die Beatles kamen: Sie haben sich in einen Ashram einquartiert, um mehr über transzendentale Meditation zu lernen, und schrieben hier den Großteil des „White Album“. Heute ist der „Beatles-Ashram“ eine heruntergekommene, von Gestrüpp überwucherte Touristenattraktion mit blumigen Graffitis. Der Eintritt ist verboten, doch viele verschaffen sich Zutritt, indem sie über die Absperrung klettern oder falsche Wächter bezahlen, damit sie die Tore öffnen. Wird man erwischt, zahlt man so oder so 75 Euro Strafe.

Die Yogaausbildung in Rishikesh ist mit rund 1400 Euro – Kost und Logis inklusive – um ein Vielfaches billiger als in Europa. Was man dafür geboten bekommt, unterscheidet sich von Schule zu Schule. Manchmal kommen 60 Schüler auf einen Lehrer. „Das sind Yoga-Fabriken. Yoga ist in Indien mittlerweile wie im Westen ein Markt. Das ist nicht schlimm, aber Quantität und Qualität gehen niemals einher“, sagt Yogi Ram. In seinem Ashram kommen drei Lehrer auf acht Schüler. Sein Guru hat von hinduistischen Mönchen gelernt und 35 Jahre lang im Hochgebirge des Himalaya gelebt. Inzwischen lebt der Mann mit langem, weißem Rauschebart im Ashram seines Schülers.

Aber braucht man heute noch einen Guru? Besteht nicht die Gefahr, sich auszuliefern? „Bullshit!“, lautet die Antwort, plötzlich ist es aus mit der Sanftmut: „Man würde doch auch nicht sagen, man braucht in der Schule keine Lehrer. Ein guter Lehrer kontrolliert dich nicht. Die Menschen sind doch voller Angst. Es braucht eine Person, die einem zeigt, wie man frei sein kann. Und Freisein bedeutet nicht, in einem demokratischen Land zu leben und tun zu können, was man möchte. Frei zu sein bedeutet, frei von Sorgen, Ängsten und Komplexen zu sein. Ein echter Guru zeigt dir den Guru in deinem Herzen.“