Auf der Suche nach Dr. Sex
by Bettina Figl
Ärzte sprechen Patienten zu selten auf Sexleben an.
Wien. Der Hörsaal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, der Professor doziert über erigierte Penisse und feuchte Vaginen: Alfred Kinsey hat mit seiner Lehre über menschliche Sexualität dem prüden Amerika der 1940er Jahre die Schamesröte ins Gesicht getrieben; seine Forschung leitete die Sexuelle Revolution ein. Vom revolutionären Geist eines „Dr. Sex“, wie Kinsey in dem gleichnamigen Roman von T.C. Boyle genannt wird, ist 70 Jahre später wenig geblieben, könnte man meinen. Denn im Jahr 2014 wird an österreichischen Universitäten Sexualmedizin lediglich als Freifach unterrichtet, wie Elia Bragagna, Leiterin der Akademie für Sexuelle Gesundheit (AfSG), kritisiert. Seit fünf Jahren bietet die AfSG Sex-Fortbildung für Ärzte an, privat und auf freiwilliger Basis – aber nur noch bis 2015, dann will Bragagna die Akademie schließen: „Wir wollen dem Staat nicht mehr die Arbeit abnehmen“, und fordert: „Jeder Mediziner muss ein sexualmedizinisches Basiswissen verfügen, wenn er die Uni verlässt.“
Dieser Artikel ist am 2.6.2014 in der Wiener Zeitung erschienen.
Depressionen als Lustkiller Nummer eins
Die sexuellen Störungen können auch Symptome für Krankheiten wie Multiple Sklerose, einen drohenden Herzinfarkt oder Schlaganfall sein; 90 Prozent der Männer mit koronarer Herzerkrankung leiden an einer erektilen Dysfunktion. Der Lustkiller Nummer eins sind jedoch Depressionen: Bei 83 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen führen sie zu vermindertem sexuellem Verlangen. Oft würden Ärzte die Probleme im Bett mit den Worten „Sexualität beginnt im Kopf“ als psychosomatisch abtun, kritisiert Bragagna. Doch die Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin hat schon oft erlebt, dass Organe, und nicht die Psyche verantwortlich dafür sind: Einer ihrer Patienten war beim Urologen, beim Neurologen, in der Psychotherapie, doch erst in der Sexualtherapie stellte sich heraus, dass ein Prolaktinom – ein gutartiger Gehirntumor – der Auslöser seines Leidens war.
„Ärzte haben Angst, den Patienten zu nahe zu treten“
Auch chronische Krankheiten wie Diabetes, Rheuma oder Arthrose gehen oft mit sexuellen Störungen einher, doch im Arztzimmer wird selten über Sex gesprochen: Nur rund zehn Prozent der Patienten würden von den Ärzten zu ihrem Sexualleben befragt, so Bragagna. „Den Ärzten ist es unangenehm, darüber zu sprechen. Sogar Gynäkologen haben Angst, den Patientinnen zu nahe zu treten, wenn sie nachfragen, ob sie mit ihrem Sexualleben zufrieden sind“, sagt die Sexualtherapeutin Sonja Kinigadner. Da auch die Patienten gehemmt sind, warten oft beide darauf, dass der andere den ersten Schritt macht. Kinigadner spricht sich ebenso für eine bessere Schulung aus, Ärzte müssten vor allem lernen, das Thema anzusprechen. „Das Wissen ist vorhanden, sie müssen es nur anwenden“, sagt auch Bragagna.“Dass der Großteil der Probleme rein organisch bedingt ist, kann ich nicht bestätigen“, sagt Josef Christian Aigner. Der Psychologe und Erziehungswissenschafter verordnet seinen Patienten bei sexuellen Beschwerden eine organische Untersuchung. Er leitet die seit 2012 bestehenden Universitätslehrgänge für Sexualtherapie und -beratung an der Universität Innsbruck: Es sind die ersten und einzigen sexualwissenschaftlichen Ausbildungen auf Hochschulebene in Österreich, 80 Prozent der Lehrenden rekrutiert Aigner in Deutschland. Denn um die einschlägige Ausbildung an den Unis anbieten zu können, fehlt es an Fachpersonal. „In Österreich gibt es nach wie vor keinen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft“, kritisiert Aigner, er schlägt eine Professur zwischen Psychologie und Medizin vor. Derzeit werde Geschlechtsverkehr von der Medizin „total ausgeblendet“, bemängelt Aigner: „Im Spital hat man weniger Recht auf Sex als im Gefängnis.“
Dabei ist sexuelle Gesundheit laut WHO ein Menschenrecht, und vor Operationen sollte immer auch darüber gesprochen werden, sagt Bragagna. Bei vielen Frauen spiele die Stimulation der Brust eine große Rolle, um einen Orgasmus erleben zu können, aber: „Hat Angelina Jolie jemand danach gefragt, bevor ihre Brust amputiert wurde?“ Die AfSG fordert Sexualmedizin als Teil des Lehrplans in jedem Fach der Medizinerausbildung und hat eine entsprechende Petition gestartet. Bragagna betont, wie wichtig das Sexleben für Beziehungen ist, da beim sexuellen Akt das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Doch nicht nur Frauen, sondern auch immer mehr Männer, und unter ihnen auch Junge, würden unter Lustlosigkeit leiden: „Ich erlebe immer wieder, dass nach einer kurzen, leidenschaftlichen Phase die Beziehung in eine Hilfsbedürftigkeit abrutscht, eine Art geschwisterliche Lebensbewältigung“, sagt Aigner. Auch Abhängigkeiten und Sprachlosigkeit wird in vielen Paarbeziehungen zur Zerreißprobe: „Partner müssen lernen darüber zu sprechen, was sie erregt“, sagt die Sexualtherapeutin Monika Bachler.
Zwischen Porno und Realität: „Oversexed and underfucked“
Unsere Gesellschaft beschreibt sie als „oversexed and underfucked“, da die omnipräsente Pornografie mit der Realität wenig zu tun habe. Dabei begrüßt sie es durchaus, wenn Sexualität in der Öffentlichkeit diskutiert wird, sei es in Serien wie „Sex and the City“, durch die Song-Contest-Gewinnerin Conchita Wurst oder in einem Zeitungsartikel. Und wer weiß, vielleicht gibt es in naher Zukunft Ringvorlesungen, die wie zu Kinsey-Zeiten auf reges Interesse stoßen, damit die Sexuelle Revolution eines Tages auch im Arztzimmer ankommt.