Die härteste Zeit des Jahres

by Bettina Figl

Für obdachlose Menschen war es ein schwieriges Jahr, und der 24. Dezember ist für viele ein besonders schwieriger Tag. In der Gruft gibt es zu Weihnachten wieder Schnitzel, auf der Straße alkoholfreien Punsch und mehr Zeit für Gespräche. Dieser Artikel ist am 24.12.2020 in der Wiener Zeitung erschienen.

In der Früh und am Vormittag eilen einige noch hektisch in Geschäfte, um letzte Besorgungen zu machen. Ab Mittag wird das geschäftige Treiben am 24. Dezember dann merklich weniger, und spätestens ab Einbruch der Dunkelheit sind nur noch wenige Menschen auf den Straßen unterwegs. Egal wie heilig einem dieser Abend ist: Am 24. Dezember wird es ruhiger in der Stadt. Wenn in Wien zu Weihnachten Stille einkehrt, wird obdachlosen Menschen umso mehr bewusst, dass sie am Rande der Gesellschaft stehen.

„Die Menschen sind zu Weihnachten emotionaler, und das trifft auch auf obdachlose Menschen zu. Für viele ist Weihnachten die härteste Zeit des Jahres“, sagt Streetworkerin Carmen Stossfellner, die bei Obdach Wien, einem Tochterunternehmen des Fonds Soziales Wien (FSW), als Sozialarbeiterin angestellt ist. Wie schon im Vorjahr arbeitet die 33-Jährige auch heuer am 24. Dezember; im Zweier-Team mit einem Kollegen geht sie Hinweisen der Kälte-App nach, sie geht auf obdachlose Menschen zu und kümmert sich um ihr Wohlergehen. Im Schnitt legt Stossfellner an einem Arbeitstag zehn Kilometer zu Fuß zurück. Zu Weihnachten wird es eine nicht ganz so lange Strecke werden, denn an diesem Tag nimmt sich die Sozialarbeiterin mehr Zeit für persönliche Gespräche: „Ich kann ihnen nicht einfach ‚Frohe Weihnachten’ wünschen und weiter gehen, denn für viele ist es dieser Tag nicht schön. Ich frage lieber ehrlich nach, wie es ihnen heute geht, und sie erzählen dann oft von ihrem früheren Leben und dem, was sie verloren haben.“

Wie an jedem anderen Arbeitstag hat sie auch am 24. Dezember eine Thermoskanne dabei, damit sie den Menschen ein warmes Getränk anbieten kann. Zu Weihnachten befindet sich darin jedoch alkoholfreier Punsch statt ungesüßtem Tee, und es gibt kleine Geschenke: Süßigkeiten, Zahnbürste und -pasta, Traubenzucker, Nüsse. „Es ist nicht viel, aber Leute nehmen das sehr gerne an.“

Manche sind erstmals in ihrem Leben auf die Hilfe angewiesen

Heuer haben sich bereits 9.200 Menschen beim P7, der zentralen Anlaufstelle für Wohnungslose in Wien, gemeldet: „Das ist eine enorm hohe Zahl“, sagt Klaus Schwertner, Direktor der Caritas Wien. Einen starken Anstieg gab es laut Schwertner auch bei den Suppenbussen: Von Jänner bis Ende November wurden 83.500 Portionen ausgegeben – um 11.500 mehr als im Vergleichszeitraum 2019. „Wir spüren die sozialen Folgen dieser Krise jetzt schon stark. Etwa kommen Menschen zu uns, die zum ersten Mal in ihrem Leben auf Hilfeleistungen wie Essensausgaben angewiesen sind. Je länger diese Krise andauert, desto stärker werden wir die Folgen spüren.“

„Auch Menschen ohne Versicherung sollen zum praktischen Arzt gehen können“, sagt Elisabeth Hammer, Neunerhaus- Geschäftsführerin. – © neunerhaus/Christoph Liebentritt

In Wien leben mehr als 1.000 Menschen, die akut wohnungslos sind. Rund 800 von ihnen schlafen in Notquartieren, auch zu Weihnachten sind 800 von 876 verfügbaren Betten belegt. Daneben gibt es „einige Hundert“, die diese Angebote nicht nutzen und auch im Winter auf der Straße schlafen. Rechnet man jene Menschen dazu, die in (Übergangs-)Wohnungen leben, leben in der Stadt fast 7.000 wohnungslose Menschen, 5.000 davon haben Plätze in Wohnheimen oder in eigenen Wohnungen mit mobiler Betreuung.

Durch die Pandemie hat sich die Situation für wohnungslose Menschen, deren Leben sich stark im öffentlichen Raum abspielt, zusätzlich erschwert. Tagsüber sind Einkaufszentren beliebte Rückzugsorte, vor der nächtlichen Kälte flüchten sich manche gerne in U-Bahn-Stationen. Beides fiel zwischenzeitlich ganz weg, und wer dieser Tage schon einmal versucht hat, unterwegs eine Toilette zu finden, während alle Cafés und Restaurants geschlossen sind, bekommt einen minimalen Einblick in den täglichen Kampf, den wohnungslose Menschen täglich austragen müssen, um basale Bedürfnisse zu befriedigen.

Hinzu kommt die Angst vor der Ansteckung mit dem Coronavirus, denn obdachlose Menschen zählen aufgrund von Vorerkrankungen oder ihrem Alter oft zur Risikogruppe.

Obdachlose Menschen fragen nach Mund-Nasen-Schutz

„Wir fordern die Menschen natürlich dazu auf, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, aber sie wollen das auch. Fast alle unserer Klienten tragen Maske, teilweise sogar während sie schlafen, und sie fragen uns immer, ob wir Masken für sie haben“, berichtet die Streetworkerin Stossfellner. „Speziell im ersten Lockdown, als es hieß, alle sollen zu Hause bleiben, waren wohnungslose Menschen sehr verunsichert“, erzählt Caritas-Direktor Schwertner. Auch für die Sozialarbeiter war die Situation im Frühjahr ein „absoluter Stresstest“, wie Schwertner erzählt: „Innerhalb von fünf Tagen haben wir das Notquartier ‚Bahnhof Meidling‘ eröffnet, um die Situation in der Gruft zu entspannen.“

Es kam zu Engpässen bei der Essensausgabe, weil 80 Prozent der Freiwilligen zur Risikogruppe gehörten und daher außer Dienst gestellt wurden. Nachdem sich innerhalb von drei Wochen mehr als 4.000 Freiwillige gemeldet haben, darunter viele junge Menschen, konnte das Angebot aber wieder gewährleistet werden. „Wir sind laufend auf der Suche nach Freiwilligen, können das Angebot aber derzeit gut abdecken“, sagt Schwertner.

Die meisten Notquartiere haben nun auch tagsüber geöffnet

Anders als im ersten Lockdown ist die Sozialarbeit in Wien mittlerweile auf die Pandemie vorbereitet: Die meisten Notquartiere haben auch tagsüber geöffnet, es gibt zusätzliche Wärmestuben zum Tagesaufenthalt und die Winternothilfe der Stadt Wien wurde im Sommer weitergeführt. Eine Sorge für die Wintermonate war, ob das Kältetelefon auch dann genutzt wird, wenn aufgrund von Ausgangsbeschränkungen weniger Menschen auf den Straßen unterwegs sind. Die Sorge war unbegründet: Zahlreiche Wienerinnen und Wiener geben ihre Hinweise auf schlafende, obdachlose Menschen weiterhin telefonisch weiter: „Die Anrufe sind zum Glück nicht zurückgegangen. Hier gibt es ganz viel Solidarität“, sagt Schwertner. Am 24. Dezember gibt es in der Gruft, Wiens wohl bekanntestem Obdachlosen-Quartier, auch heuer das traditionelle Weihnachtsessen mit Schnitzel und Erdäpfelsalat, „natürlich unter Einhaltung der Abstandsregeln“, wie Schwertner betont. Befürchtungen, dass es in Obdachloseneinrichtungen schnell zu Corona-Clustern kommen könnte, hätten sich bisher nicht bewahrheitet, sagt Schwertner: „Es gibt vereinzelt positiv getestete Mitarbeiter und Menschen, aber keine größeren Ausbrüche oder Cluster.“

„Jeden Tag müssen wir Menschen wegschicken“

Auch Elisabeth Hammer, Geschäftsführerin des Neunerhauses, ist „positiv überrascht, dass es in den Einrichtungen sehr wenige Corona-Fälle und kaum Cluster-Bildungen gibt“. Dass das Gesundheitssystem heuer mehr und mehr unter Druck geraten ist, war auch im Neunerhaus-Gesundheitszentrum, einer Anlaufstelle für Menschen ohne Krankenversicherung, zu spüren. Im ersten Halbjahr 2020 wurde dort ein Anstieg der Patienten um fast 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet, und der Andrang ist nach wie vor groß: „Es gibt jeden Tag Menschen, die wir wegschicken müssen“, erzählt Hammer, „doch aufgrund unserer Personalressourcen können wir nicht mehr Menschen aufnehmen.“

Hammer begrüßt, dass sich bei den Corona-Massentests auch Menschen ohne Versicherung testen lassen konnten. Schätzungen gehen davon aus, dass in Österreich ein bis zwei Prozent der Bevölkerung nicht versichert sind. Hammer wünscht sich, dass ihnen der Zugang zum Gesundheitswesen im niederschwelligen Bereich gewährt wird, sprich: sie sollen auch ohne E-Card zum praktischen Arzt gehen können. „Es gibt das Recht auf Gesundheitsversorgung, das wäre ein Akt der Solidarität und der Menschlichkeit“, sagt Hammer. „Die Pandemie hat uns gezeigt, was alles möglich ist.“

„Der Arztbesuch ist mehr als ein Abklären von Symptomen“

Viele Neunerhaus-Klienten seien aufgrund der Pandemie verunsichert und würden unter der sozialen Isolation leiden: „Für sie ist der Weg zum Arzt viel mehr als nur ein Abklären körperlicher Symptome, es ist sehr wichtig, dass wir das Gesprächsangebot aufrechthalten.“ Das Neunerhaus-Gesundheitstelefon, bei dem etwa Mitarbeiter der Frauenhäuser oder Behinderteneinrichtungen anrufen können, um Covid-Verdachtsfälle medizinisch abzuklären, ist auch an den Feiertagen erreichbar. „Dieses Angebot wird sehr gut angenommen, und unsere Ärzte kennen die Strukturen dieser Einrichtungen sehr gut.“ Das Neunerhaus-Gesundheitszentrum ist auch in den Weihnachtsferien an den Werktagen geöffnet. Hammer: „Wir versuchen, so gut es geht, Weihnachtsatmosphäre zu schaffen. Heuer bekommen unsere Patienten ein kleines Geschenk in Form von Gutscheinen, das haben unsere Unterstützer mit ihren Spenden finanziert.“

Heuer sind viele Nachbarschaftshilfen entstanden, etwa haben etliche Menschen angeboten, für ihre Nachbarn einkaufen zu gehen. Die Caritas hat das „Plaudernetz“ ins Leben gerufen, die nicht für akute Krisen gedacht ist, aber bei der einsame Menschen anrufen können, wenn sie sich mit jemandem unterhalten wollen. „Das Gespräch startet natürlich oft holprig, aber innerhalb kürzester Zeit bricht das Eis und es ist unglaublich, wie ähnlich unsere Themen und Sorgen in diesen Tagen doch sind“, erzählt Caritas-Direktor Schwertner, der selbst auch Plauder-Buddy ist.

Schwertner hofft, dass die gesellschaftliche Solidarität, die heuer spürbar war, auch im kommenden Jahr anhalten wird. An die Politik hat er konkrete Forderungen: Der Bund sollte, so Schwertner, die Mietstundungen auf die gesamte Dauer der Pandemie ausdehnen. Bei den entsprechenden Rückzahlungen brauche es „großzügige Fristen und Raten“, und er sagt: „Viele Menschen werden es sich nicht leisten können, die Mietstundungen jemals zurückzuzahlen. Hier plädiere ich für einen Schuldenerlass.“ Von der Stadt Wien wünscht er sich, dass die Winternothilfe – wie schon heuer – auch 2021 über den Sommer verlängern.

Und was wünscht sich die Streetworkerin Stossfellner? „Obdachlos zu werden kann jeden treffen, oft geht es sehr schnell, und oft liegt dahinter kein persönliches Versagen, sondern ein strukturelles Problem. Als Sozialarbeiterin ist es natürlich mein Job, diese Menschen so gut wie möglich aufzufangen, aber jeder kann seinen Beitrag leisten, um obdachlose Menschen als Teil unserer Gesellschaft und Gemeinschaft anzuerkennen.“

Info: Sollten Sie obdachlose Menschen in Parks oder Hauseingängen entdecken, rufen Sie bitte die 24h-Nummer 01/4804553 und Sozialarbeiter kümmern sich dann um Betroffene und begleiten sie in ein Notquartier. Mit einer Caritas-Spende von 50 Euro können ein Schlafsack und eine warme Mahlzeit finanziert werden. Caritas: IBAN: AT16 3100 0004 0405 0050, BIC: RZBAATWW, BLZ 31000, Kennwort „Gruft Winterpaket“, Online-Spenden unter www.gruft.at möglich oder www.caritas-wien.at neunerhaus: Raiffeisenlandesbank NÖ-Wien AG BIC: RLNWATWW IBAN: AT25 3200 0000 0592 9922 oder www.neunerhaus.at/spenden Obdach Wien gemeinnützige GmbH IBAN: AT18 2011 1296 5118 1000 / BIC: GIBAATWW oder obdach.wien/p/spenden Plaudernetz der Caritas ist täglich von 12 bis 20 Uhr unter der Nummer 05 1776 100 erreichbar, hier kann man sich als Plauder-Buddy anmelden: fuereinand.at/plaudernetz/