Fan-Zone der Republik

by Bettina Figl

(c) Luiza Puiu

Die Historiker Georg Spitaler und Agnes Meisinger erforschen die Geschichte des Sports am Heldenplatz. Foto: Luiza Puiu

Arbeiter-Olympiade, olympisches Feuer am Burgtor, Empfang von Karl Schranz: Tausende Sportbegeisterte machten den Heldenplatz im 20. Jahrhundert zum Sportplatz.  Agnes Meisinger steht am Heldenplatz und zeigt auf das Dach des Äußeren Burgtores, durch den der Eiskunstläufer Karl Schäfer 1936 die olympische Fackel trug. Sie erzählt: „Als ein Windstoß kam, hat er sich dabei den Kopf verbrannt.“ Das ist eines von vielen Details, das die Sporthistorikerin entdeckte, als sie zur Geschichte des Sports am Heldenplatz forschte.

Das Interview ist am 11. März 2018 in der Wiener Zeitung erschienen.

Das älteste ihr vorliegende Zeitdokument ist ein Programmheft des Arbeiter-Turn- und Sportfests aus dem Jahr 1926. Das Cover zeigt einen Arbeiter mit stolzer Miene und Fackeln, hinter ihm sind der Heldenplatz und Rathausplatz erkennbar. Es ist ein Zeugnis der ersten Veranstaltung auf dem Heldenplatz, die mit Sport in Zusammenhang steht. Damals besuchten Tausende Arbeitersportlerinnen und -sportler ein Musikkonzert vor der Neuen Burg. Entdeckt hat das Heft ihr Kollege Georg Spitaler im Archiv des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. Auf dem Heldenplatz erzählen die beiden über die sportlichen Ereignisse und die Relevanz für die nationale Identität des Landes.

Die Arbeiter-Olympiade im Jahr 1931 war die größte Veranstaltung des Arbeitersports, die Bewerbe wurden im eigens dafür erbauten Praterstadion ausgetragen. War der Heldenplatz nur ein Nebenschauplatz?

Agnes Meisinger: Nein, die Arbeiter-Olympiade bestand nicht nur aus Sport, sondern auch aus kulturellen Aktivitäten. Abschluss war das „Monsterkonzert des Gaues Wien des Österreichischen Arbeitersängerbundes“, ein Konzert zu Ehren der Olympiagäste, das von 5000 Sängerinnen und Sängern vorgetragen wurde. Wie viele Menschen insgesamt da waren, lässt sich anhand der Fotos nur schätzen, vielleicht 15.000.

Georg Spitaler: In Wien hat ab den 1920er-Jahren eine enorme Veränderung stattgefunden: Arbeiterinnen und Arbeiter versammelten sich und nahmen Raum ein, der ihnen bis zum Zerfall der Monarchie 1918 nur sehr begrenzt zur Verfügung stand. Auch der Heldenplatz wurde von der Arbeiterschaft umgedeutet und erobert. Plötzlich standen tausende Menschen im Zentrum der ehemaligen Monarchie, feierten und marschierten um den Ring. Damit haben sie ihre politische Bedeutung eingefordert. Gleichzeitigen waren Stadien eine Möglichkeit für Politiker, Aufmerksamkeit zu bekommen und Reden zu halten.

Agnes Meisinger: Spätestens in den 1930er-Jahren hat der Sport den Weg in den öffentlichen Raum gefunden, und die Politik den Weg in das Stadion.

Ab den 1920er-Jahren boomte Fußball in ganz Europa. Wie kann man sich Fußball im Wien der 20er- und 30er-Jahre vorstellen?

Georg Spitaler: In Wien stand mit der 1921 eröffneten Hohen Warte das größte Fußballstadion Kontinentaleuropas. Wien galt als Zentrum des Fußballs. In jedem Bezirk gab es ein oder zwei Fußballteams. Es bestand ein reger internationaler Austausch zwischen den Nachfolgestaaten der Monarchie. Bei den Spielen herrschte große Aufregung, es kam auch zu Gewalt und Platzstürmen. Im Fußball fand lokale Identität eine Bühne.

Eineinhalb Jahre nach der Arbeiter-Olympiade fand mit der akustischen Live-Übertragung des „Jahrhundertspiels“ Österreich gegen England die nächste Sport-Großveranstaltung auf dem Heldenplatz statt. Als Österreichs international erfolgreiche Fußball-Nationalmannschaft, das „Wunderteam“, 1932 im Londoner Stamford Bridge Stadion gegen England spielte, wurde das Match am Heldenplatz mit riesigen Lautsprechern live übertragen. Organisiert wurde das „Public Hearing“, das damals als technische Sensation galt und durch Unterseekabel ermöglicht wurde, von einer karitativen Einrichtung des „Roten Wien“, der Winterhilfe. Bei 20 Groschen Eintritt sorgte die Kapelle der Wiener Feuerwehr für Unterhaltung in der Spielpause, Standler verkauften Brezel und Süßigkeiten. Das Match verlor das „Wunderteam“ 4:3.

Wie ist zu erklären, dass diese Niederlage der österreichischen Nationalmannschaft nicht als solche empfunden wurde?

Georg Spitaler: Der Zuschauersport der 1930er-Jahre generierte Identität und diente auch der Mobilisierung; zuerst auf regionaler Ebene in Wien, dann auf nationaler Ebene. Im Falle des „Jahrhundertspiels“ war die Erzählung folgende: Der Underdog Österreich spielt gegen England, das stand für Widerstandsgeist und den Versuch, aus den Trümmern etwas Neues aufzubauen. Die Mannschaft hatte Fans in allen politischen Lagern.

Welche Rolle spielte die Politik damals im Sport?

Georg Spitaler: Viele bürgerliche Sportvereine verfolgten die Idee des Unpolitischen, aber real waren sie oft Vorfeldorganisationen von politischen Gruppen. Etwa waren die Turner oder der Alpenverein deutsch-national und antisemitisch und hatten insofern eine klare politische Ausrichtung. Auf der anderen Seite gab es den Arbeitersport. Im „roten Wien“ war Sport als Organisation und Symbol in der Öffentlichkeit sehr wichtig: Arbeiterinnen und Arbeiter konnten sich als gut organisierte, starke Bewegung präsentieren. Der Höhepunkt war die Arbeiter-Olympiade 1931.

Gab es auch Arbeiterinnen und Arbeiter, die Sport ablehnten?

Georg Spitaler: Die Sozialdemokratie war zwiegespalten: Einerseits wurde Sport als pädagogisches Programm der Aufklärung und Erziehung zu selbstbestimmten, selbstbewussten Arbeitern und Arbeiterinnen gesehen – und die Frauen sind hier sehr wichtig. Für sie gab es eigene Programme. Hier war Österreich führend, das Frauensportprogramm des ASKÖ würde zum Programm der Arbeitersportinternationale erhoben. Es ging der Sozialdemokratie nicht um Spitzenleistungen und kapitalistisch organisiertes Geschäft, Sport sollte für die Masse da sein. Andererseits wurde Sport auch kritisch gesehen, man sah Ähnlichkeiten zum Taylorismus, der Körper sollte nicht dem Rhythmus der Maschinen, sondern jenem der Natur folgen, ähnlich der lebensreformerischen Ideen der Jahrhundertwende, die es im Bürgertum gab.

1934, drei Jahre nach der Arbeiter-Olympiade, wurden die österreichischen Arbeitersportvereine durch das autoritäre Kanzlerregime von Engelbert Dollfuß verboten, wenige Monate nach dem „Jahrhundertspiel“ des „Wunderteams“ war die parlamentarische Demokratie der Ersten Republik abgeschafft worden.

Sport spielte in der Arbeiterbewegung, aber auch im Austrofaschismus und später im Nationalsozialismus eine große Rolle. Wie hat sich der Sport während dieser Zeit verändert?

Georg Spitaler: Betrachtet man die Bilder, ist man verführt, Ähnlichkeiten zu sehen: organisierte Bewegung, Massenformationen. Um zu differenzieren, muss man genau lesen, was auf den Bannern steht, welche Botschaften dahinter stecken. Die Fotos von den sozialdemokratischen Aufmärschen zeigen, dass im Arbeitersport im Gegensatz zum Faschismus keine totalitäre Vision steckte: Man sieht auf den Bildern Menschen, die auch mal herumlehnen, nicht alle machen die Übungen perfekt mit. Hier war das Ziel weniger eine uniforme, hierarchische Struktur, sondern eine freie Gesellschaft.

Der Arbeitersport war also weniger militärisch?

Es gab auch bei den Sozialdemokraten paramilitärische Tendenzen: Julius Deutsch, Präsident des ASKÖ, war Schutzbund-Obmann und förderte die Einführung von „Wehrturnern“. In den frühen 1930er-Jahren gab es Funktionäre, die auf den immer stärker werdenden Nationalsozialismus mit Hierarchie, Uniformen und Symbolen reagieren wollten. Das war innerhalb der Sozialdemokratie umstritten, die Gegner wollten selbstbewusste, selbstbestimmte Leute, und nicht ausführende Organe.

Nach dem Mord an Bundeskanzler Dollfuß folgte ein kurzer Abbruch der Beziehungen zu Deutschland – auch im Sportbereich. Als 1936 der außenpolitische und wirtschaftliche Druck Deutschlands zu groß wurde, musste Kurt Schuschnigg den anti-nationalsozialistischen Kurs aufgeben. Der Teilnahme an den Olympischen Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen und den Sommerspielen in Berlin stand nichts mehr im Weg. Bei der Weihefeier für die Spiele in Berlin brachte Karl Schäfer, bis heute der erfolgreichste Eiskunstläufer Österreichs, im Rahmen des erstmals ausgetragenen olympischen Fackellaufs das Feuer auf den Heldenplatz und entzündete auf dem Dach des Äußeren Burgtores eine Feuerschale.

Welche Sportarten waren zur Zeit des Austrofaschismus besonders populär?

Agnes Meisinger: Der Eiskunstlauf hat damals eine große Popularisierung erfahren. Für die Läuferinnen und Läufer gab es bei der Rückkehr nach Erfolgen bei Wettkämpfen im Ausland in fast jedem kleinen Bahnhof einen großen Empfang. Nach den Olympischen Winterspielen in Lake Placid/USA 1932 wurden etwa der Olympiasieger Karl Schäfer und die Olympia-Zweite Fritzi Burger in Innsbruck und Linz von Fans stundenlang aufgehalten, am Westbahnhof von 15.000 Menschen empfangen. Von politischer Seite hat man versucht, mit ihnen ein Österreich-Bewusstsein zu bewerben, politische Repräsentanten haben sich gerne mit erfolgreichen Sportlerinnen und Sportlern gezeigt; ist ja heute auch noch so.

 

Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde der Heldenplatz nicht nur für Aufmärsche genutzt, sondern war auch Zentrum eines Motorsportereignisses. Die „Östmärkische“ Voralpenfahrt gilt als das größte Autorennen auf „österreichischem Boden“ der NS-Zeit, auf dem Heldenplatz fanden der Fahrerappell und die Fahrzeugabnahme in Anwesenheit ranghoher NSDAP-Funktionäre statt. Organisiert wurde das Rennen vom NSKK, einer paramilitärischen Unterorganisation der NSDAP. Startberechtigt waren ausschließlich Mitglieder von NS- bzw. NS-nahen Organisationen.

Welche Rolle spielte der Motorsport im Nationalsozialismus?

Agnes Meisinger: Er hatte mit der Zurschaustellung des technischen Fortschritts zu tun, die Nazis betrieben viel und kostenintensive Forschung an Rennwägen und wollten die Automobilindustrie vorantreiben. Die Alpenfahrt geht bis in die 1910er-Jahre zurück, man fuhr durch die französischen und Schweizer Alpen. Das war ursprünglich unpolitisch. Als die deutsche Alpenfahrt 1938 erstmals auf deutschem Reichsgebiet stattfand, war sie das nicht mehr.

Georg Spitaler: Plötzlich waren die Alpen Teil des deutschen Reichs, die Nazis fuhren die Hochalpenstraße, den Großglockner und die neuen Grenzen des Reichs ab.

Von 1944 bis 1946 wurde der Heldenplatz aufgrund der schlechten Versorgungslage im Krieg landwirtschaftlich genutzt. Die erste sportliche Veranstaltung nach dem Zweiten Weltkrieg am Heldenplatz war das Bundessportfest des ASKÖ: 16 Jahre nach der Zerschlagung der Arbeiterbewegung feierte der Arbeitersport 1950 seine „Wiederauferstehung“.

Die Bilder von Karl Schranz auf dem Balkon des Bundeskanzleramtes am Ballhausplatz sind bis heute Teil des nationalen Gedächtnisses. Schranz, der 1972 wegen des Verstoßes gegen die Amateurbestimmungen von den Winterspielen in Sapporo, Japan, ausgeschlossen worden war, wurde von Bundeskanzler Bruno Kreisky und Unterrichts- und Sportminister Fred Sinowatz empfangen. Zehntausende Fans versammelten sich auf dem Platz und jubelten dem Skiidol zu.

Wie konnten diese Menschenmassen mobilisiert werden?

Agnes Meisinger: Es hieß, mit der Entscheidung, Schranz auszuschließen, hätte man ganz Österreich beleidigt. In den 1970er-Jahren hatte das Fernsehen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit verändert und es war kein Zufall, dass diese kollektiven Sport-Momente im Fernsehen übertragen wurden. Ohne die Medien hätte es eine derartige Nationalisierung des Sports womöglich nicht gegeben.

Georg Spitaler: Der damalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher war an dieser Inszenierung von Karl Schranz‘ Einzug, den der ORF begleitete, stark beteiligt. Der Skisport und seine Stars sind bis heute Teil des nationalen Bewusstseins. Nach dem Zweiten Weltkrieg war man auf der Suche nach einer neuen nationalen Identität, und da eignete sich der Skisport als Symbol der Alpenrepublik natürlich gut.

Dabei hat gerade im Skisport nicht wirklich Entnazifizierung stattgefunden…

Ein Beispiel ist der Skispringer Sepp Bradl, der erste Mensch, der über 100 Meter gesprungen ist. Er war ein großer Star der 1930er- und 40er Jahre. Nach dem Krieg war er als Nationalsozialist interniert, doch bald wurde er als österreichischer Skisprung-Star rehabilitiert. Ein besseres Symbol für die österreichische Opferrolle im Nationalsozialismus gaben der Fußball ab: Etwa haben sich um Matthias Sindelar, den berühmtesten Fußballstar der 1930er-Jahre, der 1939 unter mysteriösen Umständen gestorben ist, viele Mythen gerankt. Er wurde zum Opfer der Nazis stilisiert, was er wohl nicht war. Inzwischen weiß man, dass viele Sportler arisierte Betriebe übernommen haben, er war einer von ihnen.

Wie einfach ist es, Zugang zu Archiven zu bekommen, um zur NS-Geschichte von Sportverbänden und –vereinen zu recherchieren?

Georg Spitaler: Oft ist es schwierig – wobei die Gründe vielfältig sein können – von fehlendem historischem Bewusstsein bis zu bewusster Ablehnung. Dabei weiß jeder professionell geführte Verein, dass er nichts zu verlieren hat, wenn er seine Geschichte aufarbeitet. In den letzten Jahren ist einiges in Bewegung gekommen. Ich war z.B. an einer Studie über den SK Rapid im Nationalsozialismus beteiligt. Das war ein großer Gewinn für den Verein, die NS-Geschichte ist nun Teil ihres Museums. Es hat zwar auch hier einen Anstoß von außen gebraucht, aber im Nachhinein waren alle sehr froh. Es ist unverständlich, dass manche Verbände da immer noch Bedenken haben.

Hängt uns da die fehlende Vergangenheitsbewältigung, die es anders als in Deutschland nicht gab, noch nach?

Georg Spitaler: Ja, und es war sicher auch ein schwieriger Schritt, die Helden von den Sockeln herunterzuholen Oft waren in den Vereinen ja eigene Familienmitglieder verstrickt, die teilweise noch gelebt haben…und wenn man persönlich betroffen ist, macht es das natürlich schwieriger, genau hinzuschauen. Aber von außen betrachtet ist es kaum zu glauben, man fragt sich: Wovor haben die Leute Angst?

Wie wird der Heldenplatz heute im Alltag von Sportlerinnen und Sportlern genutzt?

Agnes Meisinger: Der Umzug des Parlaments auf den Heldenplatz verdrängt alle zum Teil alt eingesessenen Sportveranstaltungen wie etwa den Vienna City Marathon, das Friday Nightskating oder den Tag des Sports. Nach dem Ende der Renovierung werden die Sportlerinnen und Sportler bestimmt wieder zurückkehren.

Georg Spitaler: Unlängst bin ich am Ballhausplatz einer Laufgruppe begegnet, die ihre Stretchingübungen direkt auf dem Deserteursdenkmal gemacht hat. Zuerst war ich schockiert und fand das extrem pietätlos. Es war ja ein langer Prozess, bis es das Deserteursdenkmal endlich gab. Dass das im öffentlichen Bewusstsein nie angekommen ist, ist traurig. Gleichzeitig ist es ein Zeichen dafür, dass in der Alltagskultur Politik im engeren Sinn für viele Leute weniger wichtig ist, als wir Historiker es vielleicht gerne hätten. Unter Umständen ist es ja ein gutes Zeichen, weil es den Menschen offenbar gut geht und sie sich keine Sorgen machen. Andererseits fände ich schon besser, wenn die Öffentlichkeit weiß, warum hier ein Denkmal für Deserteure steht.

Zu den Personen
Die Historikerin Agnes Meisinger ist Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Redaktionsassistentin der Zeitschrift „zeitgeschichte“ und Basketballspielerin. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbandes „Images des Sports in Österreich. Innensichten und Außenwahrnehmungen“, der im November 2018 erscheint.

Der Politologe und Historiker Georg Spitaler ist Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. Er ist Mitherausgeber des Fußballmagazins ballesterer und des oben erwähnten Sammelbandes.