Go Home, Onkel Sam!
by Bettina Figl
Arbeitsethos in den USA unterscheidet sich stark von jenem der Österreicher. Wie sich selbst die Marshallplaner dem Sozialstaat unterordnen mussten. Bezahlte Auszeit, alle drei Jahre, bewilligt vom Arbeitgeber. Erzählt man US-Amerikanern von „Bildungskarenz“, kann es passieren, dass ihnen die Kinnlade herunter fällt. Dabei ist die Bildungskarenz nur eine von vielen Leistungen, die der österreichische Sozialstaat seinen Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht. Mutterschaftsurlaub, unbegrenzte Anzahl an Krankenstandtagen und mindestens fünf Wochen Urlaub. All das klingt für US-Amerikaner, die meist nicht mehr als zwei Wochen Urlaubsanspruch pro Jahr haben, utopisch.
Dieser Artikel ist am 3.10.2017 in der Wiener Zeitung erschienen.
Fast so undenkbar wie die Tatsache, dass – selbst in Städten wie Wien – Geschäfte und viele Restaurants am Sonntag geschlossen sind, man ab 22 Uhr kaum noch etwas zu essen bekommt, und man am Freitagnachmittag oft niemanden mehr im Büro erreicht.
Nation der Owezahrerinnen oder funktionierender Sozialstaat?
Doch inwieweit geht die Gemütlichkeit, die man den Österreicherinnen und Österreichern nachsagt, mit einem auf Arbeit bezogenen Schlendrian einher? Österreich, eine Nation der Owezahrerinnen und Owezahrer? Oder doch eher ein funktionierender Sozialstaat, der die Last des Neoliberalismus nicht auf die Schultern der Bevölkerung ablädt?
„Österreich hat eine Kultur der langen Arbeitszeiten“, sagt Jörg Flecker, Professor für Soziologie an der Universität Wien. Für viele Österreicherinnen und Österreicher beginnt der Arbeitstag um 8 Uhr und endet zwischen 17 und 18 Uhr, mit einer gesetzlichen halben Stunde Mittagspause. „In Dänemark, das aufgrund seiner Größe und seines Wohlstands mit Österreich vergleichbar ist, arbeiten die Menschen fünf Stunden weniger pro Woche“, sagt Flecker.
Viele arbeiten Teilzeit
Die durchschnittliche Arbeitszeit in Österreich betrug laut OECD im Vorjahr 35,6 Stunden – in den USA waren es 38,5 Stunden – doch diese Zahlen beinhalten auch die vielen Teilzeitarbeitenden. Fast die Hälfte der Frauen in Österreich arbeitet Teilzeit – laut dem österreichischen Gewerkschaftsbund ist es jedoch vor allem die Vollanstellung, die vor Armut schützt. Denn die sogenannte „Teilzeitfalle“ geht mit Nachteilen in Bezug auf die Karriere und Soziales einher, da man beispielsweise in die Pensionskasse weniger einzahlt.
Österreich ist eines jener europäischen Länder mit den meisten gesetzlichen Feiertagen (11), das ist einer mehr als in den USA, doch im Gegensatz zu den Amerikanern hat jeder Österreicher und jede Österreicherin Anspruch auf mindestens fünf Urlaubswochen (25 Tage). Davon können die meisten Amis nur träumen.
„Business zu machen ist schwierig, wenn man ständig auf Urlaub ist“
Der Historiker Gunter Bischof lebt seit über 30 Jahren in den USA, er leitet das Center Austria an der University of New Orleans und sagt: „Als Außenstehender fällt mir auf, dass die Beamtenschaft in Österreich sehr viel auf Urlaub ist.“ Bischof, der in seinem Arbeitsalltag viel Kontakt mit österreichischen Ministerien hat, ergänzt: „Wenn jemand wochenlang weg ist, wird es schwierig, Business zu machen.“
Bischof ist gebürtiger Vorarlberger, geht selten auf Urlaub und weiß nicht einmal, wieviel Urlaubsanspruch er theoretisch hätte. Fehlen ihm die Erholungsphasen nicht? „Mir macht der Job so viel Spaß, dass mir die Erholung nicht abgeht – vielleicht liegt das am Fleiß, den man den Vorarlbergern nachsagt.“ An sechs Tagen pro Woche arbeitet er an seinem Institut, er hat nicht vor in Pension zu gehen, bevor er 70 Jahre alt ist. Auf Urlaub geht er nur, wenn er seine Familie in Österreich besucht.
Der österreichische Soziologe Flecker hingegen spricht sich für die allgemeine Verringerung der Arbeitszeit in Österreich aus, denn das würde Arbeit auf alle sozialen Gruppen verteilen, und zu mehr Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Familie führen, wie er sagt. „Ob Arbeitszeitverkürzung auf individueller oder allgemeiner Ebene macht einen riesen Unterschied“, so Flecker.
Umfeld spielt für den Stellenwert der Arbeit eine maßgebliche Rolle
Arbeitsstunden sagen jedoch wenig über den Arbeitsethos oder den Wert von Arbeit im Leben eines Menschen aus. Dabei spielt auch das Arbeitsumfeld eine maßgebliche Rolle – und einige Österreicher in New York finden das Umfeld in den USA stimulierender als jenes zuhause.
Eine von ihnen ist die Oberösterreicherin Lisa Silbermayr. Sie wuchs in Wien auf und lebt seit drei Jahren in New York. Sie ging nach New York, um an der School of Visual Arts zu studieren, und ist hängengeblieben. Heute arbeitet sie für ein Architekturbüro in Manhattan und reist beruflich mehrmals pro Jahr. Wenn sie zurückkommt, ist es stets dasselbe Spiel; sie muss mit ihrem Personalbüro um Zeitausgleich kämpfen. Streitigkeiten über Arbeitszeiten sind in ihrem Büro keine Seltenheit: Da sick days vom Urlaub abgezogen werden, ist es in ihrem Büro üblich, dass sich Mitarbeiter krank ins Büro schleppen, einen halben Tag lang arbeiten, und dann nach Hause gehen.
Einmal brache eine ihrer Kolleginnen zusammen – und kaum jemand hat reagiert: „Die anderen haben einfach weitergearbeitet“, sagt Silbermayr, die vom sozialen Bewusstsein in den USA enttäuscht ist. Dennoch zieht sie es nicht in Betracht, nach Österreich zurückzukehren – zu sehr würde sie den drive, den Schwung, und den spirit, die Stimmung, vermissen, wie sie sagt.
Die jungen Kreativen stellen nicht die Mehrheit
Silbermayr ist Teil deiner Gruppe im Kreativbereich tätigen Österreicher in New York: Journalisten, Fotografinnen, Kuratoren, Künstlerinnen. Die meisten von ihnen hatten nicht geplant, auf Dauer im Big Apple zu bleiben, doch viele sind wie Silbermayr hängengeblieben – trotz der härteren Lebensumstände wie hohe Mietpreise (ein WG-Zimmer in Brooklyn um 1000 Euro gilt als „billig“), das fehlende soziale Netz, die höhere Geschwindigkeit und Konkurrenz im Arbeitsalltag.
Diese „Kreativarbeiter“ spiegeln jedoch nicht unbedingt die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung wieder. Zwar kennen auch sie den Stress, den ständige Erreichbarkeit und Überstunden verursachen. Doch die jungen Kreativen gehören meist weder zu den Langzeitarbeitslosen, noch zu den Pendlern, die in völliger Erschöpfung in der U-Bahn schlafen, während sie von einem ihrer drei Jobs zum nächsten fahren.
„Es ist schwierig, Arbeitsethiken zu vergleichen“
„Es ist schwierig, Arbeitsethiken zu vergleichen“, bestätigt Flecker. „Es gibt große Unterschiede je nach Industrie, Berufsgruppe oder Unternehmen“. Er kennt in diesem Bereich keine wissenschaftlichen Studien, kann aber aus seinem persönlichen Umfeld berichten: Eine österreichische Krankenschwester, die die Arbeitsbedingungen in Schweden als „viel entspannter“ beschreibt als jene in Österreich. Eine andere österreichische Krankenschwester beschreibt Schweizer Krankenhäuser, im Vergleich zur österreichischen Effizienz, als „trödelnd“.
Auch der in den USA lebende Historiker Bischof glaubt, dass es von Branche zu Branche sehr große Unterschiede gibt. Seine Beobachtung ist, dass österreichische Handwerker, vor allem jene in Klein- und Mittelbetrieben, sehr gut und effizient arbeiten. Er führt das auf das duale Ausbildungssystem zurück – in den USA haben Jugendliche nicht die Möglichkeit, eine Lehre zu machen, sie müssen bis sie 18 Jahre alt sind die Schulbank drücken.
Österreich ist keine Insel der Seligen
Österreich ist jedoch keine Insel der Seligen – oder zumindest nicht für alle. „Die Arbeitsbedingungen haben sich sehr verändert“, sagt Flecker. Die Arbeit wurde flexibler, und die Reduktion der Arbeitszeiten wurde seit den 1980er-Jahren nicht mehr vorangetrieben, Scheinselbständigkeit hat zugenommen. Zur gleichen Zeit hat Arbeitslosigkeit zugenommen: Laut Eurostat waren in Österreich in August 2016 6,3 Prozent der Menschen arbeitslos, im September 2017 waren es nur noch 5,4 Prozent (im internationalen Vergleich noch immer eine bemerkenswert niedrige Zahl).
Wer in Österreich arbeitslos ist, hat Anspruch auf zumindest 55 Prozent des früheren Gehalts. Das kann Existenzängste mindern, doch die meisten hadern mit dem Stigma der Arbeitslosigkeit. „Es ist vor allem die ältere Generation, die langzeitarbeitslos ist oder immer wieder arbeitslos wird, sagt Flecker. „Da ein Großteil der Gesellschaft immer noch nicht betroffen ist, wird Arbeitslosigkeit nicht als der Skandal angesehen, die sie ist.“
Generation Praktikum
Der Einstieg in die Arbeitswelt kann ebenfalls herausfordernd sein, Stichwort „Generation Praktikum“. Es ist etwa für junge Journalisten üblich, eine Vielzahl an Praktika zu absolvieren, bevor sie eine Vollzeitanstellung bekommen (wenn man sie denn überhaupt bekommt). In vielen Branchen ist es kaum möglich, einen Job zu bekommen ohne zuvor ein Praktikum gemacht zu haben. Viele kritisieren, dass diese Praktika üblicherweise schlecht bezahlt sind und die in Aussicht gestellte Möglichkeit einer späteren Anstellung oft nicht mehr ist als die sprichwörtliche Karotte vor der Nase.
In den USA sieht man das etwas anders: Praktika gelten als „gratis Training“; als Chance, ins Berufsleben hinein zu schnuppern und Erfahrung zu sammeln. Während Österreicher also Praktika als Ausbeutung sehen, würden US-Amerikaner fragen: Warum sollte ein Arbeitgeber jemanden anstellen, den er noch ausbilden muss?
Marshallplan sollte Österreichs Produktivität steigern
Die Mentalitätsunterschiede zeigen sich auch in der Geschichte: 1950 wollten die Amerikaner in Österreich den Marshallplan implementieren und die Produktivität des Landes steigern – doch die Einstellungen, Werte und Gewohnheiten der Österreicher zu ändern, gestaltete sich als äußerst schwierig.
„Der Marshallplan wurde nicht in allen Punkten umgesetzt, da die Amerikaner auf Widerstand seitens der Österreicher stießen“, erklärt Bischof, Autor des Buches „Marshallplan seit 1945“. „Schon früh wurde von den Amerikanern kritisiert, dass Österreich viel zu viele Beamte beschäftigt“, und in seinem Buch schreibt er: „Es fehlte nicht an Widerstand seitens der Österreicher, und es gab wenig Konsens. Das Land klammerte sich weiter an seine antiquierten Traditionen des wirtschaftlichen Nationalismus, an seinen ‚Kammerstaat‘, wie die Amerikaner sich abfällig ausdrückten.“
Die Amerikaner fuhren eine massive Kampagne für mehr Produktivität. Durch Tarifverhandlungen, freie Gewerkschaften und die Eliminierung restriktiver Geschäftspraktiken wollte man „gesunde Beziehungen zwischen Beschäftigten und Management zu fördern“. Die Sozialpartner begegneten diesen Ideen mit Skepsis. Auf der Managementebene lehnte man die Mitbestimmung ab, und die Arbeitervertreter misstrauten Programmen, die auf eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hinauslaufen konnten.
Wie sich die Mashallplaner in Österreich die Zähne ausbissen
Beamte entlassen, ÖBB und Post privatisieren, Zentralisierung des Bankenwesens: Die Amerikaner bissen sich bei ihrem Versuch, Einsparungen auf Kosten der Arbeiter zu erzielen, die Zähne aus. Auch die Kartellpraktiken und Pflichtmitgliedschaft der Kammern waren den Amis ein Dorn im Auge, sie kritisierten den „Kammerstaat“ und wollten eine Reorganisation der Sozialpartnerschaft. Die österreichische Regierung unter Bundeskanzler Leopold Figl hingegen weigerte sich, diese Vorschläge überhaupt in Betracht zu ziehen.
In anderen Worten: Österreich verwehrte sich der amerikanischen Idee, Wettbewerb und Produktivität über den Sozialstaat zu stellen. Über diese Dickköpfigkeit der Sozialpartner können österreichischen ArbeitnehmerInnen heute dankbar sein. Und wem hierzulande spirit und drive fehlen, dem sei der Besuch in den USA empfohlen. Denn spätestens wenn es darum geht, eine Familie zu gründen und/oder sich ein gutes Leben abseits der Arbeit aufzubauen, kehren auch die KreativarbeiterInnen in den meisten Fällen dankbar in den Sozialstaat zurück.