„Ich werde gefragt, was ‚Corona‘ ist“

by Bettina Figl

Die Streetworkerin Carmen Stossfellner arbeitet mit Obdachlosen. Da sie täglich Kontakt zur Hochrisikogruppe hat, steht ihr Privatleben still.

Die Streetworkerin Carmen Stossfellner (c) privat

Die Straßen sind leerer, und marginalisierte Menschen sind sichtbarer als sonst. Auch die Sozialarbeiter, die in Wien unterwegs sind, sind weniger geworden. Die Streetworkerin Carmen Stossfellner ist eine von jenen, die noch auf die Straße geht. Jeden Tag begibt sich die 32-Jährige im Team mit einem Kollegen auf die Suche nach obdachlosen Menschen. Hinweise dafür, wer dringend Hilfe benötigt, erhält sie etwa über die „Kälte-App“ oder das „Kältetelefon“(01/480 45 53).

Dieses Porträt ist am 23.3.2020 in der „Wiener Zeitung“ als Teil der Serie „Wie wir die Krise meistern“ erschienen.

Die Arbeit der Sozialarbeiterin, die bei Obdach Wien, einem Tochterunternehmen des Fonds Soziales Wien (FSW), angestellt ist, hat sich mit den Ausgangsbeschränkungen verändert: „Jeder Tag ist anders“, sagt Stossfellner, die sich nun immer erst einen Überblick über die aktuelle Lage verschaffen muss: Wo wird Suppe ausgeschenkt? Wo können sich obdachlose Menschen tagsüber aufhalten? Welche Ärztedienste haben geöffnet? „Unser Einzugsgebiet hat sich vergrößert, die Menschen sind hungriger als sonst. Essensausgabe ist nicht unsere Kernaufgabe, aber es fehlt jetzt an basalen Dingen“, erzählt Stossfellner.

In ihrem Rucksack trägt sie deshalb doppelt so viel Essen wie gewöhnlich. Sobald der erste Hunger ihrer Klienten mit einem Müsliriegel gestillt ist, wird beraten. Neben dem FSW sind auf den Straßen Wiens zurzeit nur Sozialarbeiter der Caritas unterwegs. Aufgrund der Quarantäne sind viele Freiwillige ausgefallen, bei der Versorgung von Obdachlosen kommt es teilweise zu Engpässen.

„Unsere Arbeit hat jetzt noch mehr Relevanz“, sagt Stossfellner. „Wir gehen auf die Menschen zu und erklären ihnen, dass sie sich derzeit nicht im öffentlichen Raum aufhalten sollen.“ Denn diese Information sei bei der Zielgruppe, die kaum Medien konsumiert und mitunter wenig Deutsch spricht, teilweise nicht angekommen. „Ich wurde vorige Woche von einem Mann gefragt, was ‚Corona‘ ist“, berichtet Stossfellner. Auch Sicherheitsmaßnahmen verändern ihre Arbeit: „Hände schütteln, Nähe körperlich herstellen gehört zu den Grundsätzen der Sozialarbeit, aber das tun wir jetzt natürlich nicht.“ Aus Vorsicht fährt sie auch weniger mit öffentlichen Verkehrsmitteln, im Schnitt legt sie täglich zehn Kilometer zu Fuß zurück.

In ihrem schweren Rucksack befinden sich neben Snacks, einer Thermoskanne Tee, Erste-Hilfe-Set und Info-Materialien auch Desinfektionsmittel und Handschuhe. Sie arbeitet an vier Tagen pro Woche, kann sich aber vorstellen, aufzustocken: „Mein Sozialleben steht sowieso still.“ Früher ging sie nach der Arbeit gerne auf ein Bier mit Freunden. Das half ihr dabei, abzuschalten. Doch da sie jeden Tag bis zu 25 Kontakte zur Hochrisikogruppe hat, trifft sie momentan privat niemanden. Ihren Partner, mit dem sie nicht zusammenwohnt, sieht sie nur via Skype. „Es ist hart, und ja, ich fürchte die soziale Isolation“, sagt Stossfellner.

Wie geht sie damit um? „Normalerweise koche ich nicht für mich allein. Jetzt bereite ich mir jeden Tag eine warme Mahlzeit zu, das tut gut. Immerhin ist das Bio-Eck im Supermarkt voll, Tofu kommt in der Krise wohl nicht so gut an“, meint sie schmunzelnd. Humor ist wohl ebenfalls eine gute Bewältigungsstrategie.