Jucken und Brennen als ständige Begleiter

by Bettina Figl

Illustration: Irma Tulek

Bis Frauen dahinterkommen, warum ihre Vulva schmerzt, vergehen oft Jahre. Denn die Krankheiten Vulvodynie und Lichen sclerosus sind weit verbreitet, aber kaum bekannt. In Wien hat sich ein Netzwerk formiert, um zu helfen. Dieser Artikel ist am 12.12.2020 in der Wiener Zeitung erschienen.

Ein stechender Schmerz, der sich wie Nadelstiche in die Vulva bohrt. Dazu Brennen und Jucken, an Sex oder Schwimmen ist nicht zu denken. Diese ersten Symptome spürt die Wienerin Doris Muth*, die heute 34 Jahre alt ist, vor fünf Jahren. Anfangs glaubt sie, es sei ein Harnwegsinfekt oder ein Pilz, doch das kann schnell ausgeschlossen werden. Die Angestellte arbeitet in einem Magistrat der Stadt Wien, ein typischer Bürojob mit langem, inzwischen schmerzhaftem Sitzen. Sie betreut eine Partei nach der anderen, zwischendurch eilt sie ständig zur Toilette.

„Es war der Horror“, erzählt Muth. „Ohne Diagnose wurde ich nicht krankgeschrieben. Ich musste funktionieren.“ Der Urologe verschreibt Antibiotika – im Jahr 2015 nimmt sie diese sechsmal – aber dadurch verschlimmern sich die Schmerzen. Sie rennt von einem Arzt zum anderen, unterzieht sich einer Blasenspiegelung und weiteren unangenehmen Untersuchungen – doch man findet nichts, niemand kann ihr helfen. Im besten Fall sagen ihr die Ärzte, „es passt alles“ und „machen Sie sich keine Sorgen“. Im schlimmsten Fall glauben sie ihr nicht. Als sie die Diagnose Lichen sclerosus (LS, siehe Wissen unten im Text) erhält, ist sie erleichtert. Denn diese Krankheit ist zwar unheilbar, aber die Cortisontherapie sehr wirksam. Das Jucken und Brennen ist bis heute nicht verschwunden, doch die Symptome sind unter Kontrolle und Muth ist – drei Jahre nach Ausbruch ihrer Krankheit – endlich schmerzfrei.

Muth ist kein Einzelfall. LS-Patientinnen haben oft einen sehr langen Leidensweg. Denn die Krankheit ist relativ weit verbreitet – jede 50. Frau ist betroffen -, aber in der Öffentlichkeit, und zum Teil auch innerhalb der Ärzteschaft, weitgehend unbekannt. Für Betroffene hat das schwerwiegende Folgen: Ihr Alltag ist geprägt von Schmerzen und Beschwerden, lange unbehandelt kann der Lichen zu Vernarbungen, Verklebungen und Schrumpfung der Haut im Bereich der Vulva führen. Bei Menschen mit unentdecktem Lichen besteht ein erhöhtes Risiko für bösartige Hautveränderungen.

Eine von 50 Frauen ist betroffen, ab 60 bereits jede Vierte

Diese Erfahrungen musste auch Helly Czerny* machen. Die 66-Jährige wusste 25 Jahre lang nichts von ihrer Krankheit. Zum ersten Mal bemerkte die Pensionistin Einrisse im Genitalbereich, nachdem sie ihren Sohn zur Welt gebracht hatte. Die Geburtswunde verheilte mit der Zeit, doch ein Juckreiz und „ein ungutes Gefühl“ blieben. Zuerst tauchen die Beschwerden nur ein- bis zweimal pro Jahr auf, dann immer öfter. „Es fühlte sich an, als würden Blitze aus meiner Vulva schießen“, erzählt Czerny.

Ihre Haut ist zu diesem Zeitpunkt sehr empfindlich, weiße Flecken sind zu sehen. Sie und ihr Mann haben fünf Jahre lang keinen Sex, eines Tages kann sie nicht mehr sitzen. Als ihr Frauenarzt 2015 in Pension geht, und als sein Nachfolger ihr aus der Karteikarte „Verdacht auf Lichen sclerosus“ vorliest, hört Czerny das zum ersten Mal. Als sie sich vom ersten Schock erholt hat, findet sie im Internet den Schweizer „Verein Lichen Sclerosus“, der Aufklärung und Beratung für LS-Patienten betreibt. Sie wird Mitglied, beginnt mit der Cortisontherapie, dadurch geht es ihr rasch besser. Vier Jahre sind seither vergangen. „Ich werde nie vergessen, wie mein Mann und ich uns das erste Mal wieder angenähert haben. Für mich gehören Sex und körperliche Nähe zum Wohlbefinden dazu, aber ich habe mich verkrochen und konnte das jahrelang gar nicht mehr zulassen. Ich habe mich nicht mehr als vollwertige Frau gesehen“, erzählt Czerny.

„Ab dem 60. Lebensjahr ist jede vierte Patientin von LS betroffen“, sagt die Gynäkologin und Psychotherapeutin Teresa Weber-Rössler. Sie führt eine Wahlarztpraxis im 21. Bezirk, beschäftigt sich seit 30 Jahren mit Vulvodynie (siehe Wissen unten im Text) und LS und erzählt: „Zu Beginn meiner Facharztausbildung war Vulvodynie nicht einmal Teil der fachspezifischen Literatur, aber inzwischen gibt es sehr gute Fortbildungen für Gynäkologen.“ Für Patientinnen sei es eine große Hürde, über Schmerzen in dieser intimen Körperregion zu sprechen: „Vor 25 Jahren gab es große Kampagnen im Bereich der Brustkrebsvorsorge. Eine solche Öffentlichkeit bräuchten wir jetzt für Krankheiten im Bereich der Vulva, denn das weibliche Geschlecht hat eine lange Geschichte der Tabuisierung, die bis heute andauert.“

„Es wird oft spät erkannt, wie bei vielen Krankheiten“

Im Schnitt dauere es bis zur LS-Diagnose zwei Jahre, so Weber-Rössler. „Wir haben am AKH derzeit leider keine eigene Ambulanz, LS und Vulvodynie werden in den Ordinationen behandelt. Wir hatten eine Beckenbodenambulanz, aber diese war nicht stark frequentiert, und daher wurde sie wieder aufgelassen“, erzählt Günther Häusler, stellvertretender Leiter der Gynäkologie am AKH Wien. Zum langen Weg zur Diagnose sagt Häusler: „Es wird oft zu spät erkannt, das stimmt, aber das ist bei vielen Krankheiten so.“ Bei einem LS-Verdacht folgt oft eine ärztliche Überweisung an die Dysplasie-Ambulanzen, in Wien gibt es diese am AKH oder im St. Josef Krankenhaus, wo mithilfe einer Biopsie bösartige Zellveränderungen ausgeschlossen werden sollen. Frauen mit Inkontinenz, Beckenbodensenkung, Vulvodynie oder anderen chronischen Schmerzzuständen können sich hingegen an Urogynäkologische- und Beckenbodenambulanzen wenden, wie es sie etwa in der Klinik Floridsdorf gibt. Diese Krankheiten und Symptome treten oft gemeinsam auf, und sie entwickeln sich nicht selten aus Lichen sclerosus.

Da LS eine Hautkrankheit ist und keine Geschlechtskrankheit, sind Dermatologen mitunter vertrauter damit als Gynäkologen – doch genau bei diesen werden Frauen mit Beschwerden im Intimbereich normalerweise vorstellig. „Von Gynäkologen wird Lichen sclerosus sicher ausreichend erkannt“, sagt dazu Ayman Tammaa, Vorstand der Gynäkologie und Geburtshilfe an der Klinik Floridsdorf. „Die meisten Ärzte kennen LS“, meint auch die Dermatologin Lea Jungbauer. „Aber es ist ein Unterschied, ob man eine Krankheit aus dem Buch kennt oder ob man diese schon mehrfach diagnostiziert hat. Hat man das nicht, erkennt man den Lichen erst, wenn er sehr weit fortgeschritten ist.“ Jungbauer, die sich in ihrer Wahlarztpraxis im 6. Bezirk auf LS spezialisiert hat, erklärt: „Alles, was in Schüben kommt, ist schwer behandelbar, denn wenn es Patienten besser geht, gehen sie oft nicht zum Arzt und verschleppen dadurch die Diagnose. Zudem haben viele Frauen nicht gelernt, über den Genitalbereich zu sprechen.“ Jungbauer gibt zu bedenken: „Von dieser Krankheit sind Frauen häufiger betroffen, und die Medizin war immer männerdominiert.“

Ihre LS-Patienten beschreibt die Dermatologin als „bunt gemischt“: Manche sind über 80, oft sind es aber auch junge Frauen, die von älteren weiblichen Familienmitgliedern zur Kontrolle geschickt werden. Denn LS gilt als vererblich. Betroffene sollten ihr Geschlecht einmal pro Monat fotografieren, so die Dermatologin, denn „die Krankheit passiert so schleichend, dass man den Verlauf auf Fotos besser erkennt“. Menschen mit LS-Verdacht empfiehlt sie, zu Arztterminen jene Info-Blätter mitzunehmen, die auf der Seite des LS-Vereins kostenlos zur Verfügung stehen, und sie sagt: „Geht so lange zu Ärzten und bleibt hartnäckig, bis etwas dabei herauskommt.“

Symptome sind mit Cortison gut behandelbar

Ist die Diagnose einmal gestellt, lassen sich Symptome in der Regel gut behandeln, „egal in welchem Stadium“, so Jungbauer. „Es gibt Frauen, bei denen aufgrund von Verengung und Verhärtung der Vulva Geschlechtsverkehr nicht mehr möglich ist – ihnen kann Physiotherapie helfen, die mit einer Triggerpunkt-Behandlung zur Lockerung des Beckenbodens beiträgt.“ Zum vermuteten Zusammenhang zwischen LS und bösartigen Veränderungen wie Vulvakrebs sagt sie: „Man nimmt an, dass Frauen, die LS haben und diesen mit einer Erhaltungstherapie behandeln, weniger häufig ein Karzinom bekommen.“

LS wird mit spezifischen hochpotenten Cortisonsalben behandelt. Cortison hat zwar einen schlechten Ruf, aufgrund der geringen Salbenmenge gilt es in dieser Form jedoch als unbedenklich, solange nicht überdosiert und parallel gut gepflegt wird. Nebenwirkungen sind keine bekannt. An der Uniklinik Graz läuft seit Dezember eine Studie mit Lasertherapie. Lasern sei kein Ersatz, aber eine mögliche Ergänzung zur Cortisonbehandlung, denn diese würde nicht bei allen Patientinnen ausreichen, erzählt Daniela Gold, Gynäkologin und Studienleiterin an der Uniklinik Graz. „Ich kann Lasertherapien nur im Rahmen einer Studie empfehlen“, meint dazu Jungbauer.

Auch Männer können an Lichen sclerosus erkranken

Auch Männer erkranken an Lichen sclerosus. Es fehlen noch Daten, aber die Dermatologin geht davon aus, dass ein Großteil der Männer, die sich im Erwachsenenalter aufgrund einer Vorhautverengung beschneiden lassen, unter LS leiden. „Auch hier bräuchte es mehr Forschung.“

Hinter diffusen Schmerzen im Bereich der Vulva steckt jedoch nicht immer ein Lichen sclerosus oder ein Lichen planus (eine mit LS vergesellschaftete Krankheit mit ähnlichen Symptomen). Ani Novakovic, 28 Jahre alt und Studentin an der Wiener Filmakademie, plagten diese Symptome über Jahre.

Zuerst vermutete sie, ein Pilz oder Bakterien würden dahinterstecken, doch dann kam auch ein stechender Schmerz hinzu. Sitzen oder Sex mit ihrem Freund, mit dem sie damals erst ein halbes Jahr zusammen war, war nicht mehr möglich. „Der Schmerz hat monatelang nicht nachgelassen, ich bin von einem Arzt zum anderen gerannt. Das klingt vielleicht nicht schlimm, aber für mich war es die Hölle, mein gesamter Alltag hat sich nur um Schmerz und Juckreiz gedreht.“ Obwohl sie es sich als Studentin eigentlich nicht leisten kann, 100 Euro pro Arzt zu zahlen, geht sie zu Spezialisten, wovon viele privat zu bezahlen sind.

„Ich war bei Infektionsspezialisten, Dermatologen, Urologen, Gynäkologen und meinem Hausarzt. Ich war mitten in der Nacht im Krankenhaus. Niemand wusste, was das ist.“ Schließlich erhält auch sie nach zirka zwei Jahren eine Diagnose: Sie leidet unter Vulvodynie (siehe Wissen unten im Text). Diese Krankheit lässt sich mit Medikamenten schlecht behandeln. Um ihre Schmerzen zu lindern, legt sie Cool Packs auf und geht zur Physiotherapie – beides hilft ihr.

Die Wiener Physiotherapeutin Heidi Halbedl behandelt jährlich mehr als 50 Frauen, die wie Novakovic mit Beckenbodendysfunktionen und chronischen Schmerzen im Bereich der Vulva zu ihr kommen.

Engagiertes Wiener Netzwerk

In Wien gibt es auf diesem Gebiet ein kleines, engagiertes Netzwerk von Wiener Ärztinnen, Sexualtherapeutinnen, Psychotherapeutinnen und Physiotherapeutinnen – aber nur wenige haben einen Kassenvertrag. Die Gynäkologin Weber-Rössler, die auch Psychotherapeutin ist, erlebt bei vielen Betroffenen, dass sich deren Persönlichkeit aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte stark verändert: „Mit anhaltenden Schmerzen werden Frauen ängstlicher, ziehen sich zurück, manchmal entwickelt sich eine Depression. Einige haben Probleme mit ihrem Selbstwert, weil sie aufgrund von Schmerzen beim Geschlechtsverkehr kein Sexualleben haben.“ Weber-Rössler versucht, ihre Patientinnen darin zu bestärken, Sexualität nicht auf Geschlechtsverkehr zu reduzieren. Denn Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Frauen trotz Schmerzen Geschlechtsverkehr hat. „Schmerzhafte Sexualität ist eines der letztes Tabuthemen“, sagt Weber-Rössler. „Aber viele meiner älteren Patientinnen leben Sexualität ohne Geschlechtsverkehr. Das ist eine Tür, die ich auch meinen jüngeren Patientinnen öffnen möchte.“

Wie Weber-Rössler sieht auch Halbedl ihre Aufgabe darin, Wissen zu vermitteln und Frauen auf dem Weg zur Empowerment zu unterstützen. Empowerment, also den Prozess der Selbstermächtigung, haben die in diesem Artikel beschriebenen Frauen durchlebt. Sie sind drangeblieben, bis sie eine Diagnose hatten. Sie haben die Verantwortung für ihr Leben und ihren Körper selbst in die Hand genommen.

Die Filmakademie-Studentin Novakovic arbeitet heute an einem Kurzfilm über ihre Krankheit. Das Drehbuch ist semiautobiographisch, der Film wird unter anderem von der Bezirksvorstehung des 13. und 14. Bezirks unterstützt, jetzt hofft sie noch auf eine Förderung der MA7. Die Pensionistin Czerny ist seit zwei Jahren ehrenamtliche Moderatorin einer LS-Selbsthilfegruppe und das aktivste Mitglied des Vereins Lichen Sclerosus in Österreich. Corona-bedingt kann sie heuer nicht wie sonst mit einem Info-Stand auf Ärztekongresse fahren, um Aufklärungsarbeit zu leisten, auch die Selbsthilfegruppen treffen einander derzeit nur online.

So lernten einander Muth und Czerny bei einem Online-Workshop zum Thema Dehnen kennen: „In diesem Fall hatte das Coronavirus etwas Positives, ich konnte an dem Workshop in der Schweiz online teilnehmen, das war eine extrem positive Erfahrung. Dort habe ich Frauen getroffen, die auch Lichen sclerosus haben, und ich habe gesehen: Man kann trotzdem ein glückliches Leben führen, man kann Kinder bekommen, man kann eine glückliche Beziehung führen.“

Wissen:
Lichen sclerosus (LS) (griech. für „trockene weiße Flechte“) wurde erstmals 1886 von dem Dermatologen François Hallopeau beschrieben und früher auch „Weißfleckenkrankheit“ genannt. Experten schätzen, dass eine von 50 Frauen von LS betroffen ist, auch bei Kindern und Männern kann die Krankheit auftreten (allerdings weniger häufig). Die Krankheit ist chronisch und somit unheilbar, in der Regel aber gut behandelbar. Sie tritt meist schubartig im äußeren Genitalbereich auf, und es wird angenommen, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. LS wird häufig mit Pilz, Herpes und Blaseninfekten verwechselt. Die Krankheit tritt nach der Menopause noch häufiger auf, aber auch junge Frauen sind betroffen.

Wer „Vagina“ oder „Scheide“ sagt, meint meist die Gesamtheit der äußeren primären Geschlechtsorgane – also die Vulva. Sie besteht aus Venushügel, inneren und äußeren Schamlippen, Klitoris, Harnröhren- und Scheidenöffnung. Die Vagina ist lediglich jene Körperöffnung, die die Vulva mit der Gebärmutter verbindet – also jenem Schlauch, mit dem man Penetrationssex hat und Kinder gebärt.

Vulvodynie nennt man chronische, meist brennende Schmerzen an der Vulva. Häufig ist nicht das ganze äußere weibliche Geschlecht betroffen, sondern nur der Scheideneingang und die Vulvalippen (Schamlippen). Der Schmerz kann spontan auftreten, ohne jeglichen Kontakt, oder provoziert durch physischen Kontakt wie etwa Geschlechtsverkehr, enge Kleidung, Radfahren. Vulvodynie und Lichen sclerosus treten manchmal gemeinsam auf, beziehungsweise entwickelt sich bei LS-Patientinnen aufgrund langjähriger unbehandelter Beschwerden auch eine Vulvodynie. Menschen, die von Lichen sclerosus, Lichen planus oder Vulvodnyie betroffen sind, finden Experteninformationen und Hilfe beim Verein Lichen Sclerosus. Dieser wurde im Jahr 2013 in der Schweiz gegründet, ist europaweit aktiv und hat mehr als 5.000 Mitglieder im ganzen deutschsprachigen Raum, davon rund 260 Mitglieder aus Österreich. In allen Bundesländern gibt es LS-Selbsthilfegruppen, auch in Wien.