Obdachlose gehen auf die Straße

by Bettina Figl

Frauen im Notquartier „Hermine“ protestieren gegen Bettensteuer

Wien – Es gibt endlich wieder eine warme Mahlzeit. Es gibt Duschen und Waschmaschinen, vor allem aber: ein Dach über dem Kopf. Maria M. ist eine von 15 Frauen, die in der „Hermine“ in Wien-Landstraße ein Notquartier gefunden haben. Seit fünf Monaten ist sie hier, und bis jetzt war die 33-Jährige zufrieden – wie es in drei Wochen weitergehen wird, weiß sie nicht.

„Der Standard“ vom 09.10.2010

Mit Einführung der Mindestsicherung müssen Obdachlose in Notschlafstellen vier Euro pro Nacht zahlen, sobald sie dort mehr als zwei Monate verbracht haben. Eine Bewohnerin sagt: „Jeder würde gerne in der ‚Hermine‘ bleiben.“ Bezahlen will sie dafür nicht, denn: „Wer ist schon freiwillig hier?“

Vereinzelt kommen Frauen im Laufe des Abends in die „Hermine“. Erschöpft vom Tag auf der Straße sinken sie in orange Plastik-stühle. Sie reden, rauchen, trinken Energy-Drinks. Verständnis haben die Frauen kaum dafür, dass sie bald 120 bis 124 Euro pro Monat für ihren Schlafplatz zahlen sollen. Denn in dem betreuten Wohnheim Gänsbachergasse nebenan kann man für 105 bis 150 Euro tatsächlich wohnen – mit Türen, auch tagsüber. In die „Hermine“ dürfen die Frauen erst ab 18 Uhr, von Privatsphäre kann keine Rede sein.

Flackerndes Neonlicht in den Schlafräumen, die „Zimmer“ sind aus Spanplatten provisorisch zusammengeschustert – das Provisorium, aus dem heraus die „Hermine“ im Vorjahr entstand, merkt man ihr an. Man hört jeden Atemzug, die Frauen loben dennoch die Ruhe hier. Sie vermissen aber Privatsphäre, zum Beispiel in den Duschen: „Selbst im Häfen hast du Trennwände“, sagt Maria M. in breitem Wienerisch.

Sie verlor vor einem halben Jahr ihre Wohnung, eine Zeitlang lebte die Angestellte in Pensionen – bis ihre Firma in Konkurs ging. Als ihr Erspartes aufgebraucht war, schlug sie sich auf der Straße durch – bis sie von der „Hermine“ erfuhr, in die sie auch ihre drei Hunde mitnehmen durfte.

„Riesengroße Sauerei“

Anders als Salzburg und Niederösterreich hat Wien beschlossen, die in der Mindestsicherung enthaltenen Wohnkosten auszubezahlen: Das sind 186 Euro der 744 Euro. Bei der Wohnungslosenhilfe ist man der Ansicht, es sei für Obdachlose ein „wichtiger Lerneffekt“, wieder Miete zahlen zu müssen. Dagmar Weggel von der Fonds-Soziales-Wien-Tochter „Wieder Wohnen“ sagt, Wohnungslose sollten die Schuld für ihre Obdachlosigkeit nicht nur bei anderen suchen, sondern Eigenverantwortung übernehmen.

Doch was, wenn am Monatsende kein Geld übrig ist? Viele Menschen leben auf der Straße, weil sie – oft aufgrund von Drogen-, Alkohol-oder Spielsucht – nicht mit Geld umgehen können, argumentiert man bei der Initiative für kostenloses Wohnen (Inkono). Hinter der Initiative stehen Sozialarbeiter, die anonym bleiben wollen. Einer von ihnen fürchtet, dass nun auch die dauerhaften Wohnplätze teurer werden, und spricht von einer „Riesensauerei“. Denn kein Mensch wisse, wie die Bettensteuer umgesetzt werde.

Auch Klaus Schwertner von der Caritas Wien ist noch nicht klar, was mit Menschen geschehen soll, die zu Monatsende keine vier Euro mehr zur Verfügung haben, aber: „Niemand darf unversorgt auf der Straße stehen“, sagt er.

Stefanie P. – abrasierte Haare, tätowierte Unterarme – war zehn Jahre lang Hausfrau, ihren prügelnden, alkoholkranken Mann habe sie ertragen, bis die Kinder aus dem Haus waren. Er kam ihr zuvor, setzte sie vor die Tür, verbrannte ihre Papiere. Jetzt kann sie sich nicht scheiden lassen, sagt sie, bekommt keinen Unterhalt. Seit Wochen lebt sie in der „Hermine“. Stefanie P. bekommt keine Mindestsicherung, also muss sie für Nächtigungen weiterhin nichts bezahlen.

Die „Hermine“-Bewohnerinnen wollen am Samstag gegen die „Bettensteuer“ auf die Straße gehen. Sie hoffen auf möglichst viele Teilnehmer am Christian Broda Platz, immerhin gehe es um 400 Nächtigungen jede Nacht in Wien.