„Wir haben gehofft, dass es besser wird. Aber es gibt kein Syrien mehr“

by Bettina Figl

0xUmFuZG9tSVbivsTeTcIdMQ6eEl1sESGKgZBaOKqfhy7AbQTtHCRZZuWNEyMR3KJ3eSL1IDtZSHKZ2CokZufgCA==Über müde Gesichter am Wiener Westbahnhof legt sich ein breites Lächeln, die Arabisch-Dolmetscherinnen haben Tränen in den Augen. Zum ersten Mal hält Amir (Name geändert) seinen Sohn am Arm, zum ersten Mal seit einem Jahr sieht er seine Frau wieder. Als der Syrer 2014 nach Österreich floh, war seine Frau schwanger. Inzwischen ist sein Sohn sieben Monate alt; Amir kann kaum glauben, dass sie nun endlich vereint sind. Die Frau, die mit ihrem Bruder und einem Freund vor einem Monat aus Syrien geflüchtet ist, kam am Freitagvormittag mit dem Bus von der ungarischen Grenze am Wiener Westbahnhof an. Bis zum Nachmittag waren es rund 50 Busse, die von Nickelsdorf hier ankamen. Im Vergleich zum vergangenen Wochenende, an dem noch 730 Menschen Asyl beantragten, waren es von Montag bis Donnerstag 1141 Menschen.

Diese Reportage ist am 11.9.2015 in der „Wiener Zeitung“ erschienen und hier nachzulesen. Die Fakten hat Siobhán Geets recherchiert, ich habe mich am Wiener Westbahnhof umgesehen.

Asylanträge bleiben konstant

Insgesamt kamen von Montag bis Freitagmittag 16.000 Flüchtlinge von Ungarn nach Nickelsdorf, durchgereist sind aber deutlich mehr: Von Österreich kamen in den vergangenen sieben Tagen 50.000 Asylsuchende nach München. Für viele ist Wien also nur ein Zwischenstopp: Während am Donnerstag und Freitag je rund 8000 Flüchtlinge pro Tag nach Österreich kamen, ist die Zahl der Asylanträge seit Mai nicht gestiegen: Es sind nach wie vor rund 300 täglich.

Auch die junge Familie aus Syrien will nicht in Wien bleiben, Amir findet Österreich „scheiße“: Bei der Familienzusammenführung habe man ihn alleine gelassen; die Behörden hätten ihn immer nur vertröstet, arbeiten durfte er auch nicht. Er hofft, in Berlin eine Wohnung und Arbeit zu finden. Wie sie nach Deutschland kommen, erklärt ihnen die Dolmetscherin Sarah Selmi. Die junge Frau mit pinkem Kopftuch und schwarzer Lederjacke ist eine von rund 200 Helfenden, die täglich am Westbahnhof im Einsatz sind. Sie arbeiten ehrenamtlich und rund um die Uhr. Am Freitag bekamen sie Besuch von Bundespräsident Heinz Fischer, der sich für ihre Hilfe bedankte. Selmi ist seit Tag eins dabei. Dafür brauche es „schon gute Nerven“, sagt sie.

„Alles wird gut“
Vor allem was die Flüchtlinge aus Ungarn berichten, sei furchtbar: Sie müssen auf der Straße schlafen, werden unmenschlich behandelt. Eine Hebamme habe bei der Geburtshilfe ihren Ellenbogen eingesetzt. Was treibt die Wienerin mit ägyptischen Wurzeln, die fließend arabisch spricht, an? „Die Menschen sprechen kein Deutsch, fühlen sich ausgeschlossen und alleine. Oft reicht es, wenn man ihnen sagt: Alles wird gut, auch wenn man nicht weiß, ob es stimmt.“

Der baldige Semesterbeginn hält die Studentin nicht davon ab, täglich zum Westbahnhof zu kommen, ihr Samstagsjob ebenso wenig: „Morgen melde ich mich krank.“

Die Flüchtlinge schlingen ein paar Bissen Banane und Kaiserschmarrn herunter, dann werden sie von Polizisten zu den Zügen eskortiert. Die freien Plätze in den Waggons nach Salzburg und München gehen an sie. Eine Gruppe junger Burschen steht am Bahnsteig und diskutiert lautstark auf Farsi, ob sie nicht doch in Österreich bleiben sollen. Der Zug nach Salzburg ist kurz davor, sich in Bewegung zu setzen – wenig Zeit für schwerwiegende Zukunftsentscheidungen. Der Zug fährt ohne sie ab.

Zwischen Österreich und Ungarn fahren derzeit keine Züge, dabei wird es auch am Wochenende bleiben. Die ÖBB bittet Freiwillige und Busunternehmen, nicht noch mehr Menschen zu den Bahnhöfen zu bringen, da der Transport sonst nicht abgewickelt werden könne. Derzeit pendeln Bundesheer-Busse zwischen Nickelsdorf und Westbahnhof beziehungsweise Graz. Etwa 3000 Menschen haben die Nacht auf Freitag in Notschlafquartieren verbracht.

Eine Syrerin – ihre herumtollenden Kinder sind zwei und sechs Jahre alt, sie ist im vierten Monat schwanger – sitzt im Bus und wartet, bis der Zug nach Deutschland bereitgestellt wird. Sie will nicht fotografiert werden, sie schämt sich, auf der Flucht zu sein: „In Syrien hatten wir ein vornehmes Leben, ein Auto, ein Haus. Wir haben gehofft, dass es besser wird, es wurde nur schlimmer. Es gibt kein Syrien mehr.“

Flucht vor IS
Gezögert hat auch der 25-jährige Hussam Al Khafaji. Seine Mutter hatte Angst um ihn und wollte ihn zuerst nicht gehen lassen. In nur 14 Tagen hat er es schließlich von Bagdad nach Österreich geschafft. In der Türkei hat er einen Fluss in einem 20-Mann-Boot überquert – später erfuhr er, dass ein anderes Boot gesunken ist und eine Familie dabei ums Leben kam. Seinen Rucksack hat er verloren, er besitzt nur mehr eine Jacke, ein Englisch-Wörterbuch und seinen Studentenausweis. Er studiert Journalismus und ist vor den Daesh – den IS-Milizen – geflohen. Seine Mutter wünscht sich, dass er den Journalismus bleiben lässt und stattdessen Pilot wird. Das würde die Familienzusammenführung vereinfachen.