„Wir pfeifen aus dem letzten Loch“

by Bettina Figl

Der Lockdown wird verlängert, um die Intensivstationen nicht zu überlasten. Dort sind die Maßnahmen noch nicht angekommen. Eine Pflegerin an einer Covid-Station am Wiener AKH zeichnet ein düsteres Bild. Dieser Artikel ist am 16.4.2021 in der Wiener Zeitung erschienen.


Die Intensivmedizin arbeitet seit Monaten auf Anschlag. Betten werden aufgestockt. Personal von anderen Stationen abgezogen. Nicht dringende Operationen verschoben. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) warnte am Montag vor Überlastung der Intensivstationen und vor drohenden Triagen, wie ein Rundruf der „Wiener Zeitung“ zeigt. „Wir haben nur eine begrenzte Anzahl an Herzlungenmaschinen und wir müssen diese bei einem 50-Jährigen abdrehen, um sie bei einem 40-Jährigen einzusetzen, einfach weil seine Überlebenschancen größer sind“, sagt etwa Eva Zeis. Die Krankenschwester am Wiener AKH, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, arbeitet seit drei Wochen auf einer Covid-Station. „Bei einem 70-Jährigen wurde überlegt, ob es sich auszahlt, ihn aufzunehmen. Er hatte Glück, weil gerade noch ein Bett frei war. Sobald wir ein 8. Bett dazu bekommen, und das werden wir, ist die Betreuung nicht mehr 1:1.“

Volle Intensivstationen als Lockdown-Argument

Der drohende Kollaps des Intensivsystems hält als Rechtfertigung für die Verlängerung des Lockdowns in Wien bis zum 2. Mai her. Für Thomas Czypionka ist das Argument nicht schlüssig: „Wir reden immer über die Intensivstationen und tun so, als wären alle Probleme gelöst, wenn sie nicht voll wären“, sagt der Gesundheitsökonom vom Institut für Höhere Studien. „Doch selbst mit unendlich vielen Intensivbetten, -Pflegern, -Medizinern müssten wir Maßnahmen ergreifen, um Infektionen zu verhindern.“

Denn auch mit ausreichenden Intensiv-Kapazitäten kommt es zu schweren Verläufen und Todesfällen, die es zu verhindern gilt. Auch die langfristigen Auswirkungen der Erkrankung sind kaum erforscht. Erste Studien aus Großbritannien zeigen teils schwerwiegende neurologische Folgen bei zehn bis 30 Prozent der Erkrankten. „Auf eine Intensivstation verlegt zu werden ist eine traumatische Erfahrung. Sie muss mit allen Mitteln verhindert werden“, sagt Czypionka. Egal wie viele Intensivbetten zur Verfügung stehen.

Kein Vorbeikommen am Donaukanal

Zeis und ihre Kollegen können dem nur zustimmen. Sie begrüßen die Verlängerung des Lockdowns: „Wir finden das gut, denn bei jedem Öffnungsschritt steigt die Anzahl an Intensivpatienten.“ Auch die FFP2-Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen findet die Pflegerin gut. Fast täglich radelt sie den Donaukanal entlang zur Arbeit. „Dort war es so voll, dass ich mit dem Fahrrad kaum durchgekommen bin. Den Leuten beim Feiern zuzusehen, während wir um jedes Menschenleben kämpfen, hat mich grantig gemacht.“ Seit Maskenpflicht herrscht, kommt sie wieder ungehindert zur Arbeit.

Im Wiener AKH sind die Folgen des Lockdowns noch nicht angekommen. „Wir pfeifen aus dem letzten Loch, die Situation ist wirklich schlimm. Seit sich die britische Mutation durchgesetzt hat, liegen auch junge Menschen ohne Vorerkrankungen auf der Intensivstation. Da denke ich immer, hoffentlich ist niemand aus meinem Bekanntenkreis dabei.“ Die meisten der Patienten seien zwischen 40 und 60 Jahre alt, aber zuletzt wurden auch ein 21-Jähriger und eine 37-Jährige auf der Intensivstation behandelt. „Der 21-Jährige hat überlebt und konnte, als einziger in den vergangenen drei Wochen, auf die normale Station verlegt werden.“

„Viele sterben später“

Doch selbst dann ist man längst nicht über dem Berg. Bevor Zeis auf der Covid-Station angefangen hat, betreute sie Post-Corona-Patienten auf der „regulären“ Intensivstation. „Viele sterben später. Manche überleben die Lungentransplantation nicht, andere sterben Monate nach der Infektion an Nierenversagen.“ Zeis erzählt, wie die Krankheit ihren Wirt austrickst: Eine 50-Jährige, die nicht wusste, dass sie Corona hat, brach zu Hause plötzlich zusammen, und wurde erst im Spital positiv auf das Virus getestet. Ein 45-jähriger Patient telefonierte noch mit seinen Kindern, obwohl seine Sauerstoffsättigung bei 50 lag. „Er hat gar nicht mitbekommen wie sehr er bereits unter Atemnot litt.“

Die Pflegerin beschreibt ihre Arbeit als psychisch sehr belastend: „Eines der schlimmsten Dinge ist, den rasanten Verfall der Patienten komplett mitzuerleben, ihnen dabei zuzusehen, wie sie keine Luft mehr bekommen. Bei der Aufnahme sind sie noch wach und ansprechbar, doch dann verschlechtert sich ihr Zustand von Tag zu Tag. Nach zirka drei Tagen müssen sie oft in den künstlichen Tiefschlaf versetzt werden.“ Doch selbst „die maximale Therapie“ führe kaum zu Besserung. Meist sind die Patienten in einem Dreibettzimmer untergebracht und bekommen mit, wie schnell sich der Zustand ihrer Zimmerkollegen verschlechtert. „Sie haben große Angst und fragen, ob das bei ihnen auch so sein wird.“

„Dann stellen wir uns halt ums Sterbebett

Schwierig mitanzusehen sei auch, dass die Menschen allein sterben: „Meistens telefonieren sie noch ein letztes Mal mit ihren Angehörigen, aber sie dürfen keinen Besuch empfangen und sterben allein. Dann stellen wir Pfleger uns halt ums Sterbebett.“

Neben der psychischen Belastung leidet Zeis auch unter der körperlichen Anstrengung. In ihren neun Dienstjahren habe sie noch nie eine so starke körperliche Belastung erleb, erzählt die 35-Jährige: „Ich habe eigentlich einen sehr stabilen Kreislauf und dachte, ich würde das Tragen der Schutzkleidung gut aushalten. Aber unser Dienst dauert 12,5 Stunden und wir tragen die Schutzkleidung sechs Stunden am Stück. Danach sind wir schweißgebadet und der Kopf tut weh von der Gasmaske. Vor allem in den Nachtdiensten habe ich Kreislaufprobleme.“ Ihre älteren Kolleginnen sind bereits im Krankenstand oder erledigen nur noch Hohl- und Bringdienste. „Weil wir die Schutzkleidung bereits anhaben, und die Ärzte sie nicht extra anziehen wollen, schicken sie uns ins Zimmer“, erzählt die Pflegerin. „Wir übernehmen also Tätigkeiten, die die Ärzte normalerweise selbst machen würden. Bei den Putzfrauen ist es genauso. Alle versuchen so wenig wie möglich zu den Covid-Patienten zu gehen.“

Da Zeis erst eine Teilimpfung erhalten hat, lebt sie in ständiger Sorge, das Virus mit nach Hause zu nehmen. Sie erzählt, einige ihrer Kollegen hätten sich mit dem Virus infiziert, obwohl sie bereits beide Teilimpfungen erhalten haben.

Fehlende Anerkennung und der Gedanke an Kündigung

Zeis wünscht sich mehr Anerkennung. „In den Medien lese ich von Corona-Pauschalen. Wir haben nie zusätzlich Geld bekommen.“ Gibt es psychologische Unterstützung? „Ganz am Anfang meiner Ausbildung, also vor rund 15 Jahren, gab es Supervision. Wir haben aber auch nicht danach gefragt, also vielleicht gäbe es das.“ In den vergangenen beiden Wochen dachte Zeis erstmals ans Aufhören. „Wenn die Situation in einem Jahr noch immer so ist, mache ich nicht mehr weiter. Ich weiß nicht wie das meine Kollegen mit Kindern im Homeschooling machen. Das ist nicht vereinbar.“

*Details wie Alter und Geschlecht der Patienten sowie des Pflegepersonals wurden leicht geändert, um die Anonymität zu wahren.