„Allah sagt, wir sollten dieses Land teilen“
by Bettina Figl
Araber in Jerusalem sorgen sich um die Familien in Gaza.
An Obstständen wird um wenige Schekel Granatapfelsaft verkauft, junge Soldatinnen harren sichtlich gelangweilt vor dem Jaffa-Tor aus, in der Altstadt von Jerusalem versuchen Händler entlang von Jesus’ Leidensweg Touristen in ihre Geschäftslokale zu locken. Zwei Tage nach dem Luftangriff in Richtung Jerusalem, dem ersten seit mehr als 40 Jahren, geht das Leben in Israels Hauptstadt seinen gewohnten Lauf.
Dieser Artikel ist am 19.11.2012 in der Wiener Zeitung erschienen und hier zu lesen.
„Für uns ist das normal, hier in Jerusalem ist es sicher“, beschwichtigen die Einwohner fast mantraartig, doch die Araber unter ihnen sorgen sich um ihre Freunde und Verwandten im besetzten Gazastreifen: „Die Fotos der Toten und Verwundeten brechen mir das Herz“, sagt ein Aktivist, der ungenannt bleiben möchte, der „Wiener Zeitung“. Er setzt sich in der palästinensischen Grassroot-Organisation „The Voice“ für eine Zwei-Staaten-Lösung ein.
Die jüngsten Raketenangriffe der Hamas auf Tel Aviv und Jerusalem bezeichnet er als „Selbstverteidigung“, die Hamas stuft er nicht als radikal ein, denn: „Was soll man tun, wenn man dir das Land wegnimmt und deine Kinder umbringt?“ Wie für viele Palästinenser ist für ihn unverständlich, warum die Israelis den Militärführer der Hamas getötet haben.
„Israel ist eine Sünde“
Auf persönlicher Ebene spürt der 33-Jährige, der in einem arabischen Viertel in Jerusalem ein Schmuckgeschäft betreibt, keine Konflikte zwischen Juden und Arabern: „Wenn an Sabbat alle jüdischen Geschäfte geschlossen haben, kommen die Juden hierher, um zu essen und einzukaufen.“ Das Problem sei vielmehr die „rassistische israelische Regierung“.
Der strenggläubige Muslim sagt: „Israel ist eine Sünde und hat kein Recht zu existieren“, die Lösung des Konflikts liegt seiner Ansicht nach nicht in der Politik, sondern werde vom Koran vorgegeben: „Allah sagt, wir sollten dieses Land teilen, ohne Vorurteile“ – wie genau eine Zwei-Staaten-Lösung aussehen könnte, weiß er jedoch nicht.
Einige Gassen weiter sitzt ein junger Mann auf einem Hocker und versucht, Touristen in sein Geschäft zu locken. Sobald das Thema Politik aufkommt, senkt er seine Stimme, das Wort „Hamas“ soll niemand hören. Er hat Angst offen zu sprechen, da der Mossad, der israelische Geheimdienst, überall seine Ohren habe, und will daher auch nicht, dass sein Namen in der Zeitung zu lesen ist. Der 22-Jährige lebt mit seiner Familie in Hebron, 30 Kilometer südlich von Jerusalem. Was er mit dem Verkauf von Teppichen einnimmt, schickt er seiner Frau und seinen Verwandten ins Westjordanland, es sichert ihr Überleben.
Er spricht von „unverhältnismäßiger“ Vorgehensweise der israelischen Armee; ginge es nach ihm, sollten die Israelis auch aus Jerusalem verschwinden. Er ist im Gegensatz zu den Menschen im Palästinensergebiet Besitzer einer „Blue Card“, da er in Jerusalem geboren wurde, und kann sich daher frei bewegen. Anders ergeht es jenen Menschen, die im Gazastreifen leben: Sie dürfen diesen erst verlassen, sobald sie über 40 Jahre alt sind oder wenn eine medizinische Notsituation es erforderlich mache, berichtet ein arabischer Busfahrer.
„Die Israelis wurden von den Angriffen überrascht“, beurteilt ein älterer Muslim mit Falten im Gesicht die Anschläge, und sagt: „Gewalt kann man nur mit Gegengewalt entgegentreten.“ Er kritisiert, die Israelis hätten keine diplomatischen Führer, und fordert: „Die Palästinenser sollen ihr Land zurückbekommen.“ Trotz aller Streitigkeiten gibt es in seinem Geschäft die Kippa, die Kopfbedeckung der Juden, zu kaufen: „Die verkaufe ich als Souvenir für die Touristen, nicht für Juden“, stellt er klar.