„Es wird eine moralische Agenda verfolgt“

by Bettina Figl

(c) Stanislav Jenis

(c) Stanislav Jenis

Der Sexarbeitsmarkt wird nicht von Menschenhandel dominiert, sagt Soziologin Julia O’Connell Davidson.

Bei Sexarbeit wird oft unterstellt, dass Menschenhandel im Spiel ist. Junge Frauen, die in Osteuropa gekidnappt werden und in Westeuropa zur Prostitution gezwungen werden: Passiert das oft oder sind das Einzelfälle?

Julia O’Connell Davidson: Ich sehe das oft in den Medien, aber nicht in der Realität. Natürlich gibt es furchtbare Missbrauchsfälle, aber die gibt es überall, auch im Bereich häuslicher Gewalt.

Dieser Artikel ist am 10.10.2014 in der „Wiener Zeitung“ erschienen.

Zwischen 2012 und 2002 mussten 20,9 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten, schätzt die Internationale Arbeitsorganisation ILO. Gibt es verlässliche Zahlen, wie viel davon Sexarbeit war?

Nein, gar nicht. Es ist extrem schwer, allein die Größe des Marktes in einzelnen Ländern zu definieren. Ich verlasse mich nicht auf die Zahlen, mit denen herumgeschmissen wird. Und es gibt keine Studie, die zeigt, dass der Großteil der Sexarbeiter dazu gezwungen wird. Natürlich gibt es Menschenhandel, aber der Sexarbeitsmarkt wird nicht davon dominiert. Wenn dann ein Missbrauchsfall aufgedeckt wird, ist der Schrei nach einem Prostitutionsverbot schnell da. Findet hingegen in einer Ehe Missbrauch statt, heißt es nie: Heiraten sollte verboten werden. Hier wird eine moralische Agenda verfolgt, und hat nichts damit zu tun, dass man Menschen schützen will.

Warum sind Sie bei Prostitution gegen Verbote und Freierbestrafung?

Weil es zu einem Klima der Angst beiträgt und die Arbeit der Frauen erschwert. Damit macht man sie verletzbarer.

Stichwort Straßenprostitution: Sind Sexarbeiterinnen auf der Straße verletzbarer?

Nicht unbedingt. Dort ist die Arbeit auch unabhängiger: Manche Menschen arbeiten auf der Straße, nur damit sie die eine oder andere Rechnung bezahlen können. Auf der Straße gibt es mehr Gewalt, das ist klar. Aber die geht gar nicht unbedingt von den Freiern aus, sondern von irgendwelchen Irren, die Prostitution stigmatisieren.

In Wien ist Straßenprostitution nur noch am Stadtrand und nicht mehr in den Wohngebieten erlaubt. Nun gibt es Proteste von Anrainern in Floridsdorf. Verstehen Sie das?

Ja, wenn Straßenprostitution verdrängt wird, fühlen sich dort die Anrainer marginalisiert und sind wütend. Diejenigen, die das Gesetz machen, denken nicht an die Konsequenzen ihres Tuns und machen Menschen verletzbar, die es ursprünglich nicht waren. In Großbritannien wird der Großteil der Menschen definitiv nicht zur Sexarbeit gezwungen. Dort darf man nur alleine arbeiten, aber nicht zu zweit oder zu dritt, und das zwingt in die Abhängigkeit.

Inwieweit hängen Gentrifizierung und Prostitution zusammen?

In vielen europäischen Städten gab es Viertel, in denen vorher egal war, was passiert. Dann sind die Mietpreise in die Höhe geschnallt und dann wollte man die Straßen „säubern“, von ungewollten Menschen verschiedenster Art. Hier wurden die Verbote ausgeweitet, vor allem bei der Straßenprostitution, weil argumentiert wird, die Frauen auf der
Straße wären damit sicherer. Es arbeiten zwar nur sehr wenige Frauen auf der Straße, die Politik fokussiert aber immer auf die Straßenprostitution und verwendet sie als Argumentation, Sexarbeit zu verbieten oder Freier zu bestrafen.

Wird auch Menschenhandel durch die Politik instrumentalisiert?

Ja. Wenn starke Grenzkontrollen eingeführt werden sollen, ist Menschenhandel ein riesiges Phänomen, wenn Aufenthaltsbewilligungen erteilt werden sollen, ist es plötzlich ein winziges.

In einer Ihrer Studien haben Sie weltweit Freier und Männer zu Menschenhandel und der Nachfrage nach nicht-freiwilliger Sexarbeit interviewt. War es schwierig, mit ihnen darüber zu sprechen?

Bei den Sextouristen war es einfach, weil sie auf Urlaub waren und Männer gerne erzählen. Bei unseren Interviews zur Nachfrage des Menschenhandels im eigenen Land war es schwieriger. In Schweden fiel es den Männern gar nicht auf, dass es diese Probleme gibt. In anderen Ländern ist Sex ein stigmatisiertes Thema, über das man nicht spricht, wie in Indien.

Was ist eigentlich in Indien los, man gewinnt den Eindruck, Vergewaltigung sei dort Teil des Alltags?

In den USA geschehen ebenfalls sehr viele Vergewaltigungen, dort gibt es auch sehr viel häusliche Gewalt. Es ist schwierig, das zu generalisieren, aber wenn wir uns ansehen, was die USA und Indien gemeinsam haben, dann fällt der hohe Grad an Religiosität auf. Aber hier muss man sehr aufpassen, um nicht in Rassismen zu fallen. Natürlich waren die Vorfälle in Indien abscheulich. Aber die ganze Welt ist sexistisch und überall ist Sexismus Teil des Alltags – außer in Ländern, wo es echte Bestrebungen gab, die Teilnahme von Frauen in der Öffentlichkeit zu verbessern, wie in den skandinavischen Ländern.

Medien bezeichnen Menschenhandel oft als „moderne Sklaverei“. Sie kritisieren das. Warum?

Das ist ja oft nur eine Argumentation gegen Zuwanderung und für stärkere Grenzkontrollen. Der große Unterschied zu dem transatlantischen Sklavenhandel zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert ist, dass die Menschen in Afrika damals mit ungeheurer Gewalt gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen. Diese Menschen wollten nicht nach Amerika, aber heute wollen sie nach Europa. Man sollte sich eher ansehen, welche Gesetze heute verwendet werden, um Migranten außerhalb Europas zu behalten: Irregulären Migranten bei der Einreise zu helfen, ist in Ländern wie Frankreich strafbar. Zur Zeit der Sklaverei wurden Kapitäne bestraft, wenn sie Sklaven auf ihren Schiffen zur Flucht verhalfen. Auch Überwachungssysteme an den Grenzen gab es heute wie damals. Hier sehe ich viel mehr Parallelen als zwischen Menschenhandel und Sklaverei.

Julia O’Connell Davidson
ist Professorin für Soziologie an der Universität Nottingham. Seit den 1990er Jahren forscht sie zu Sexarbeit und Menschenhandel. Am Freitag sprach sie in Wien bei der Tagung der „Task Force Menschenhandel“ über Wechselwirkungen zwischen Prostitution und Menschenhandel.