„Ich will keine Revolution, sondern Experimente“

by Bettina Figl

(c) Bernard Galewski

(c) Bernard Galewski

„Wir müssen wieder lernen, unterschiedlicher Meinung zu sein. Der erste Impuls ist, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Doch dann entdeckt man plötzlich Unterschiede – und das ist gut so“, sagt der Historiker und Philosoph Theodore Zeldin. Ich traf ihn in seinem Haus nahe Oxford zum Interview, heraus kam ein langes Gespräch darüber, wie man leben soll und warum er gegen Achtsamkeit ist. Das Interview ist am 29.9.2018 im „Extra“ der „Wiener Zeitung“ erschienen.

Herr Zeldin, sind Sie ein Rebell?

Theodore Zeldin: Ja. Ich habe gegen die traditionelle Bildung an der Universität rebelliert. Zu viel Spezialisierung tut den Hochschulen nicht gut. Junge Menschen gehen an die Universität, um das Leben besser zu verstehen. Hier in England sind immer mehr junge Menschen von der Universität enttäuscht, also müssen wir diese neu erfinden. Als Studiendekan (13 Jahre lang leitete er das St. Anthonys Collage in Oxford, Anm.) habe ich Menschen aufgrund ihrer Originalität aufgenommen, und nicht wegen ihrer Zeugnisnoten. Ich wollte ein College, das anders war, an dem man schlaue Menschen trifft und Fächer findet, die sonst nirgends angeboten wurden. Mein Ziel im Leben ist es, so viel wie möglich über andere Menschen herauszufinden. Das ist mein Hauptforschungsgebiet.

In Ihren Büchern gehen Sie immer wieder der Frage nach, wie man leben soll. Was ist Ihre Antwort?

Es ist sehr einfach, ein Leben zu verschwenden. Die wenigsten können von sich sagen: Wenn ich nicht geboren worden wäre, würde der Welt etwas fehlen. Aber genau das ist das Ziel! Mozart ist nicht tot, er bleibt durch seine Musik am Leben.

Das ist ein sehr hohes Ziel. Wir können nicht alle Mozart sein.

Natürlich nicht, aber auch kleine Dinge können die Welt verändern. Einen neuen Freund zu gewinnen, ist ein Erfolg. Wir können versuchen, Armenier und Türken davon abzuhalten, sich zu hassen. Oder Rechtsextreme, Flüchtlinge zu hassen.

Ihre Eltern waren russisch-jüdische Flüchtlinge. Inwiefern hat das Ihr Leben beeinflusst?

Meine Eltern flohen 1921 vor dem russischen Bürgerkrieg. Alles, was sie bei sich hatten, war ein kleiner Goldbeutel. Zuerst gingen sie nach Wien, wo meine Mutter ihre Ausbildung als Zahnärztin beendete. Anschließend gingen sie nach Palästina. Mein Vater war Ingenieur und Brückenbauer und fand dort Arbeit, weil die Briten dort damals ein Eisenbahnnetzwerk aufbauten. Ich wurde am Fuße des Berg Kamels geboren, später gingen wir nach Ägypten, das damals ebenfalls eine britische Kolonie war. Mein Vater wollte immer, dass ich Engländer werde. Das passiert, wenn man Migrant ist: Man will seine Vergangenheit zurücklassen und ein neues Leben aufbauen. Ich habe immer englische Schulen besucht und bin in den 1940er Jahren nach England gegangen. Meine Eltern haben sich für mich aufgeopfert, und ich hatte ein gutes Leben. Meine Geschichte zeigt, dass die jetzigen Migrationsströme nichts Neues sind. Der Grund, warum sie nun für dermaßen viel Störung sorgen, ist, dass die Menschen heute sehr große Angst haben. Wir verfügen zwar über viele Freiheiten, aber es ist uns noch nicht gelungen, frei von Angst zu sein.

Was steckt hinter dieser Angst?

Ignoranz. Oft haben Einheimische und Flüchtlinge noch nie miteinander gesprochen. Es gibt Widerstände gegen alles, was uns nicht vertraut ist. Je weniger man sich dessen bewusst ist, dass es Migration immer schon gab, desto mehr Angst hat man. Ein Drittel der Menschen in manchen englischen Städten ist zugewandert, und es werden Steine auf sie geworfen. Das Problem ist, dass nicht miteinander gesprochen wird, man nur Stereotype im Kopf hat. Jeder Flüchtling braucht einen Menschen, der sich um ihn kümmert, eine Bezugsperson. Hier in England gibt es solche Projekte – und sie funktionieren.

Die Anweisung „sprecht miteinander“ klingt so einfach.

Ich habe Konversationsveranstaltungen in 15 Ländern organisiert. Es werden an diesen Abenden Menüs mit Fragen aufgelegt, und die Themen sind schwerwiegend: es geht um den Sinn des Lebens, und die Menschen gehen darin völlig auf. Auf diese Weise wurden schon Türken und Armenier zusammengebracht. Sie unterhielten sich über ihre Familien und Privates. Politik wurde ausgeklammert, denn das spaltet. Wir müssen wieder lernen, unterschiedlicher Meinung zu sein. Es ist zwar der erste Impuls, nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Doch dann entdeckt man plötzlich Unterschiede – und das ist gut so! Dadurch lernt man Dinge, die man noch nicht kennt. Dieses Interesse an den Unterschieden sollte auch in der Beziehung zwischen Mann und Frau praktiziert werden. Der Krieg zwischen den Geschlechtern ist noch immer der größte Krieg auf Erden, und wir kommen hier nicht wirklich voran.

Wie meinen Sie das?

Für die Hälfte aller Frauen werden Ehen von ihren Vätern arrangiert. Das bedeutet nicht unbedingt, dass diese Ehen schlechter verlaufen, manchmal sogar besser. Romantische Liebe ist keine neue Erfindung, sie geht zurück bis in die Antike. Heute gibt es den Trend des Internet-Datings, und das einzige Kriterium ist, ob ich mich zu dem Profilbild einer Person physisch hingezogen fühle. Doch will ich mit der schönen Person aus dem Internet wirklich mein Leben teilen?

Sie sind mit Ihrer Frau, der Linguistin Deirdre Wilson, seit 43 Jahren verheiratet. Was ist das Geheimnis einer funktionierenden Partnerschaft?

Freundschaft ist das Fundament jeder Beziehung. Meine Frau und ich waren lange Zeit nur befreundet und führten andere Beziehungen. Aber wir haben, und das ist sehr wichtig, immer miteinander gesprochen und einander vertraut. Zehn Jahre nachdem wir uns kennengelernt hatten, sind wir zusammengekommen und haben geheiratet. Meine Frau und ich sind sehr unterschiedlich, sie ist in vielen Dingen schlauer als ich. Ich hätte eine meiner schönen Freundinnen von früher heiraten können, doch das wäre langweilig gewesen. Zuerst geht es immer um das Aussehen und oberflächliche Dinge. Die Kunst besteht darin, einander zu inspirieren und sich dabei zu unterstützen, die Welt zu entdecken. Meine Frau war Professorin für Linguistik und Kognitionswissenschaften am University College in London und hat an der Universität Oslo geforscht. Sie reist viel und trifft Menschen von überall auf der Welt. Ich habe großes Glück.

In Ihren Büchern schreiben Sie, die Suche nach einem Seelenverwandten mache nicht glücklich. Wieso?

Man hat herausgefunden, dass Menschen, die glauben, ihren Seelenverwandten gefunden zu haben, sich sehr rasch wieder trennen. Wir müssen inspiriert werden, und die Verbindung zu einer einzigen Person reicht dazu oft nicht aus. Wir brauchen viele „Gedankenpartnerschaften“ – doch oft hält uns Eifersucht davon ab, mit mehreren Menschen gleichzeitig in Beziehung zu treten.

Sie schreiben, nicht das Individuum, sondern das Paar sei das Ideal der heutigen Zeit. Sie meinen damit also nicht nur romantische Paarbeziehungen?

Romantische Verbindungen sind das eine, doch Menschen haben viele Interessen. Es geht um die Fähigkeit, Freundschaften aller Art aufzubauen. Es gibt Paare, die körperlich sind, und Paare, die in Gedanken verbunden sind. Wenn man lernt, wie eine andere Person die Welt sieht, wird Wahrheit komplexer. Wahrheit ist wie ein Diamant, der Licht aus verschiedenen Richtungen ausstrahlt: Je nach dem, von wo man auf ihn blickt, zeigt er etwas anderes.

Deshalb ist Interdisziplinarität in der Wissenschaft so wichtig. Und man muss Geschichte lernen. Jetzt versuchen die Menschen, sich nur auf die Gegenwart zu konzentrieren. Das ist nicht der richtige Weg.

Sie sprechen den Achtsamkeitstrend an, den Sie kritisch sehen.

Jemand hat mir erzählt, dass er durch Achtsamkeitstraining kreativer wurde. Ich glaube nicht, dass Achtsamkeit das tut. Neue Ideen entstehen im Austausch mit anderen, doch die Schwäche von Achtsamkeitstraining ist, dass es nicht darum geht, neues Wissen zu generieren. Ich bevorzuge den Begriff „Nachdenklichkeit“: Man soll alle Gedanken zusammenzubringen und nicht versuchen, sie zu verbannen, wie Achtsamkeit oder Meditation es tut. Achtsamkeitstraining eignet sich, um uns ruhig zu stellen. Das ist sehr praktisch für Regierungen, denn die Wähler sind dann zufrieden mit der Welt, wie sie ist. Wenn du ruhig und zufrieden bist, wirst du keine Revolution starten!

Besteht nicht ein Unterschied darin, ob man mit sich selbst zufrieden ist oder mit dem Status der Welt?

Persönliche Zufriedenheit geht mit dem Fehlen an Imagination einher. Ich bin nicht zufrieden, wie ich bin. Es gibt so viele Dinge, über die ich nichts weiß. Ich mache so viele Fehler.

Meditation wird nachgesagt, dass sie uns aus Gedankenspiralen befreien kann. Was raten Sie Menschen, die gegen immer wiederkehrende Gedanken ankämpfen?

Meine Alternative zu Achtsamkeitstraining ist Schlaf. Wenn man gut schläft, verarbeitet das Gehirn Erfahrungen, die man tagsüber gesammelt hat. Wenn ich also ein Problem habe, das ich nicht lösen kann, gehe ich zu Bett, und in der Früh fällt mir meist eine Lösung ein – die muss ich dann schnell aufschreiben. Ich rate außerdem dazu, Konversationen zu führen, dabei immer nur ein Problem anzugehen und die Antworten des Gesprächspartners zu analysieren. Das ist wie Tennisspielen. Aber wir leben zunehmend in einer Zivilisation des Schweigens. Ich habe mit Menschen in armen Vierteln in London gesprochen. Die meisten werden depressiv, weil ihnen niemand zuhört und sie niemand versteht. Jeder Mensch wünscht sich Zuspruch und Zuneigung. Es ist so leicht, das Leben eines Menschen zu zerstören. Ein falscher Blick genügt manchmal schon. In Städten sprechen wir nicht mehr mit unseren Nachbarn. Die Generationen schweigen einander an, weil sie nicht mehr zusammenleben.

Was schlagen Sie vor? Sollen wir zum generationenübergreifenden Wohnen zurückkehren?

Heute bevorzugen die meisten älteren Menschen, alleine zu leben. Aber sie sehnen sich trotzdem nach Kontakt zur Außenwelt. Das sehen wir auch in Liebesbeziehungen: Die Ehe von Partnern, die sich nicht die ganze Zeit sehen, funktioniert oft besser. Es geht darum, soziale Kontakte zu expandieren, um Isolation zu vermeiden.

In Ihren Büchern stellen Sie die Frage, was ein lohnendes Leben ist. Was ist Ihre Antwort darauf?

Für alle Lebewesen ist der vorrangige Sinn Fortpflanzung. Doch Menschen wollen heute mehr als das. Ein Leben ist dann zufriedenstellend, wenn es nicht nur auf egoistische Ziele ausgerichtet ist, sondern wann man sich in der Gesellschaft nützlich macht. Ich möchte beispielsweise Arbeitgeber dazu bringen, zu forschen und zu experimentieren. Jede Firma sollte andere, neue Formen der Arbeit erforschen. Sie sollen ihren Mitarbeitern dabei helfen, bessere Menschen zu werden.

Ist das realistisch? Die meisten Unternehmen sind doch auf Profit orientiert.

Ja, das sind sie jetzt, und wie wir wissen, ist der Profit sehr ungleich verteilt. Sie sagen, meine Ideen klingen blödsinnig und sind unmöglich. Aber ich kann Ihnen als Historiker sagen, dass Menschen die Art, wie sie arbeiten, oft sehr radikal verändert haben. Erst lebten sie in Wäldern, dann haben sie Agrikultur betrieben, nun sind sie vor allem im Dienstleistungssektor aktiv. Diese Veränderungen passierten immer dann, wenn die Menschheit explodiert ist, und das erleben wir jetzt wieder. In vielen Ländern finden immer mehr junge Menschen keinen Job. Ich hoffe, dass es uns bewusst wird, dass wir das jetzige System ändern müssen, weil es nicht mehr zu den Bedürfnissen der Menschen passt. Viele Menschen sind in ihrem Job unglücklich und wollen sich beruflich verändern.

Woher kommt es, dass viele mit ihren Jobs unzufrieden sind?

Viele der heutigen Jobs wurden im industriellen Zeitalter geschaffen. Das Ziel war es, Güter zu produzieren, und nicht, dass die Mitarbeiter ein schönes Leben haben. Doch nun, in der Dienstleistungsgesellschaft, werden persönliche Beziehungen hergestellt. Die wichtigste Fähigkeit ist daher, dass wir in der Lage sind, Verbindungen zu anderen herzustellen. Viele junge Menschen sind heute gut ausgebildet, und das hat ihre Ziele verändert; sie wollen nicht nur Geld verdienen, sondern die Welt sehen, reisen, sich weiterentwickeln. Die meisten Jobs ermöglichen das aber nicht, also müssen wir neu denken, wie Arbeit aussehen kann.

Welche Rolle soll der Staat in der neuen Arbeitswelt spielen?

Wir haben uns immer auf Regierungen verlassen, und jetzt gehen diese der Reihe nach Bankrott. Die Jungen müssen ihre eigene Zukunft schaffen. Demokratie bedeutet, dass Menschen, die unzufrieden sind, die Regierung abwählen können. So ist der Brexit zu erklären. Ich will keine Revolution, sondern Experimente. Das können schon kleine Dinge sein. Edison hat 10.000 Fehler gemacht, bevor er das elektrische Licht erfunden hat. Fehler sind sehr hilfreich.

Welches Experiment wollen Sie noch angehen?

Der Tourismus wächst rasant, aber wir reisen nicht richtig. Oxford ist voller Chinesen, die sich die Gebäude und Denkmäler ansehen, aber das ist alles, was sie tun. Sie treffen keine Einheimischen. Ich will Hotels und Stadtverwaltung dazu bringen, Einheimische und Touristen zusammenzubringen.

Information

Theodore Zeldin, geboren 1933, ist Historiker, Philosoph und emeritierter Professor an der Universität Oxford, wurde als Sohn jüdisch-russischer Migranten in Palästina geboren und hat mit 17 Jahren das Studium an der London University und später der Universität Oxford abgeschlossen. Er hat das St. Anthonys College in Oxford mitaufgebaut und war dort 13 Jahre lang Studiendekan. Zeldin hat ein Konzept für Konversationsreihen entwickelt, das regelmäßig in vielen Städten weltweit stattfindet, in Wien sind es die „Coffeeshop Conversations“. Er ist Autor zahlreicher Bücher, auf Deutsch übersetzt sind u.a. „Eine intime Geschichte der Menschheit“ und „Gut leben: Ein Kompass der Lebenskunst“. Derzeit arbeitet Zeldin an einem Buch über Liebe. Für die britische Zeitung „The Independent“ ist Zeldin einer von 40 Menschen, die das 21. Jahrhundert nachhaltig beeinflussen werden. Er ist mit der Linguistin und Koginitionswissenschafterin Deirde Wilson, die die sogenannte „Relevanztheorie“ mitentwickelt hat, verheiratet. Gemeinsam leben sie in einem Haus im Art Deco-Stil nahe Oxford.