Kein Heilmittel gegen Politikverdruss
by Bettina Figl
Hoffnungen auf mehr Demokratie durch das Internet haben sich nur zum Teil erfüllt – Parteien bleiben Reformen nicht erspart.
Keine Frage: Das Internet hat den Zugang zu Informationen erleichtert. Doch das führt nicht automatisch zu größerer politischer Kompetenz oder stärkerer Partizipation. Das zeigt eine aktuelle Studie der Otto Brenner Stifung. „Das Internet bringt keine Wähler zurück“, lautet das ernüchternde Fazit von Studienautor und Demokratieforscher Wolfgang Merkel. Er hat untersucht, inwiefern Referenden, digitale Demokratie und deliberative Verfahren die repräsentative Demokratie stärken kann.
Dieses Interview ist am 12.6.2015 in der „Wiener Zeitung“ erschienen.
In Ihrer Studie schreiben Sie vom „Gespenst der Demokratiekrise“. Gibt es so eine Krise gar nicht? Glauben Sie nicht an Gespenster?
Wolfgang Merkel: Nein. Wir müssen hier differenzieren. Wenn wir von Krise sprechen, muss es einen Zustand geben, der besser war. Was war dieses „Goldene Zeitalter der Demokratie“? Die miefigen 1960er Jahre, in denen Homosexuelle mit dem Strafrecht verfolgt wurden und Frauen grotesk unterrepräsentiert waren, in denen Afroamerikaner in den Südstaaten nicht wählen durften? Sicher nicht. Heute gibt es viele Verbesserungen; Frauen sind deutlich besser repräsentiert, Minderheiten deutlich besser geschützt.
Was hat sich durch das Internet demokratiepolitisch verbessert?
Es gibt niederschwellige Beteiligungsangebote und mehr Mitsprache bei Personalentscheidungen in den Parteien oder mehr Transparenz durch Instrumente wie den Abgeordneten-Watch. Korruption und unlautere Wahlpraktiken werden öffentlich anprangert, der Abgeordnete ist heute gläsern.
Hat sich dadurch das Auftreten der Politiker geändert?
Sie sind vorsichtiger und deutlich zurückhaltender geworden. Ich würde meinen, Politiker sind heute weniger korrupt als vor 30 Jahren, und da hat das Netz eine wichtige Rolle gespielt.
Wo liegen die Grenzen der Möglichkeiten des Internets?
Politische Entscheidungen werden immer noch im Parlament getroffen und nicht außerhalb. Das Internet allein wird nichts revolutionieren, es ändert nicht den Kern unserer Entscheidungskultur in der Demokratie.
Welche negativen demokratiepolitischen Entwicklungen sehen Sie?
Auf den Finanzmärkten gibt es heute weniger Restriktionen als je zuvor. Bei großen Entscheidungen wie im Steuerrecht sehe ich einen vorauseilenden Gehorsam der Politiker, weil sie Investoren im Land haben wollen. Die Regierungen haben heute sehr viel geringere Handlungsmöglichkeiten. Dass wir Zentralbanken aus politischer Kontrolle entlassen haben, halte ich für ein demokratiepolitisches Problem. Das ist der wichtigste Spieler, und gerade hier hält sich die Politik raus.
Laut Ihrer Studie konnte das Internet und der damit verbundene leichtere Zugang zu Informationen die politische Teilhabe nicht verändern. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Diejenigen, die schon vorher an der Politik Interesse gezeigt haben, zeigen auch im Internet Interesse. Man kann sich per Mausklick beteiligen. 50 Prozent der Bevölkerung sind regelmäßig im Internet, 10 Prozent davon beschäftigen sich im Internet aktiv mit Politik, ein Prozent ist aktivistisch – das sehe ich positiv.
Das Netz ist also vor allem für politische Aktivisten interessant?
In wenigen Tagen kann man 80.000 Unterschriften sammeln. Wir sehen aber eine Inflation all dieser Petitionen, und damit werden diese auch weniger ernst genommen.
Was sind die Schwächen der digitalen Demokratie?
Es ist weitgehend anonym, und es wird schnell ein Shitstorm entfacht. Es gibt eine digitale Niedertracht im Netz. Die Piratenpartei, die sich über das Netz selbst zerlegt hat, hat das vorgemacht.
War E-Voting ein Flop?
Erste Untersuchungen zeigen, dass E-Voting nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Es hat nicht die Hoffnung erfüllt, mehr Wähler an die virtuelle Wahlurne heranzuführen. Und auch das untere Drittel, das aus der politischen Partizipation komplett ausgestiegen ist, bringt das E-Voting nicht zurück. Aber seien wir uns ehrlich: Alle vier Jahre zur Wahl in die Schule um die Ecke zu gehen ist nicht besonders viel verlangt. Junge Menschen benutzen am ehesten E-Voting.
Das Interesse an Politik hängt aber doch stark mit dem Bildungsniveau zusammen?
Je höher das Bildungsniveau, desto höher das Bewusstsein, dass es einen Unterschied macht, ob ich wählen gehe. Hier gibt es dramatische Unterschiede zwischen dem unteren Drittel und der Mittelschicht: Drei Viertel der Mittelschicht sagen ja, es macht einen Unterschied, drei Viertel der Unterschicht sagen nein.
Abgesehen vom Schichtenphänomen zeigen immer mehr junge Leute offen ihr Desinteresse an Politik und gehen nicht wählen.
Ja, neben Bildung ist auch das Alter eine wichtige Variable: Es gibt junge Leute, die sagen, mit Politik wollen wir nichts zu tun haben. Wir wissen aber nicht, ob das ein Alterseffekt ist, ob sie mit 35 oder 40 Jahren anders denken werden, oder ein Kohorteneffekt, dass sie das ein Leben lang mitschleppen. Ich könnte mir vorstellen, dass es beides ist.
Haben wir nicht ein Legitimationsproblem, wenn die Wahlbeteiligung sinkt?
Mit 74 Prozent in Westeuropa liegen wir immer noch rund 30 Prozent über dem Wert in den USA oder in der Schweiz. Das ist kein zentrales Problem, aber bei Länder- oder Kommunalwahlen liegt die Wahlbeteiligung deutlich darunter. Volksabstimmungen sind in der Theorie durchaus bestechend.
Nur in der Theorie?
In Volksabstimmungen werden mit 15 Prozent der Abstimmungsberechtigten Entscheidungen getroffen, die dann zu Gesetzen werden. Hier sehe ich eine erhebliche Legitimationsproblematik. Aber auch in der Schweiz – dem Land der Referenden – werden nur zehn Prozent der Gesetze per Volksabstimmung beschlossen. In der Bedeutung sind Referenden eher eine Illusion. Die soziale Selektion ist bei Referenden deutlich höher, die Entscheidungen sind nicht minderheitensensibel, sondern bremsen meist bei der Gleichberechtigung.
Nicht so in Irland, das eben erst per Volksbescheid für die Homo-Ehe gestimmt hat?
Nein. Das war ein notwendiger Modernisierungspush für ein erzkatholisches Land.
Sie schreiben in Ihrer Studie, digitale Demokratie oder deliberative Verfahren können Reformen der Parteien nicht ersetzen. Wie sollen diese Reformen aussehen?
Für Parteien ist nicht so sehr das Problem, dass sie keine Wähler hätten, sondern dass ihnen die Mitglieder wegsterben. Sie müssen transparenter und offener werden – für neue Mitglieder und für Wähler. Wähler müssen mitbestimmen dürfen, Wahllisten geöffnet werden. Das ist nicht ganz einfach, weil dann die traditionellen Mitglieder maulen. Die ganz große Zeit der Parteien ist aber vorbei. Die guten jungen Leute arbeiten für Attac, Amnesty International, Human Rights Watch.
Viele Wähler sagen, die Parteien sind nicht mehr unterscheidbar – in Ihrer Studie haben Sie jedoch markante Unterschiede festgestellt?
Wir haben hunderte Wahlprogramme seit 1950 codiert und durchaus markante Unterschiede festgestellt. Doch in einem Bereich, in der Finanz- und Haushaltspolitik, verschwinden die Differenzen zwischen den großen Parteien, hier gibt es kaum noch Unterschiede.
In Österreich wird eine Linkspartei diskutiert. Räumen Sie einer solchen Chancen ein?
Da die KPÖ schon länger verschwunden ist, gibt es links von der SPÖ nicht viel. Eine Linkspartei hat in Österreich weniger Chancen als in Deutschland. Dort konnte sich die Linke durchsetzen, weil sie eine historische Verankerung im Osten hatte.