„Mein Rat lautet: Keep cool!“
by Bettina Figl
Seit Günther Krabbenhöft vor zwei Jahren von Touristen am U-Bahn-Steig in Berlin fotografiert wurde, hat sich sein Leben auf einen Schlag geändert. Heute jobbt der 72-Jährige, der fast sein ganzes Leben lang als Koch gearbeitet hat, als Model und Stilberater, und er ist ein Star in den sozialen Netzwerken. Dass die Fotos für dieses Interview am Berliner Tempelhofer Feld entstehen sollten, gefiel ihm nicht – er kann große Menschenansammlungen nicht leiden und kritisiert, dass an diesem Platz keine Sozialwohnungen entstehen. Doch als er dann im Abendlicht zwischen Sonnenblumen für die Kamera posiert, ist er wieder in seinem Element. Er kommt mit zwei 10-Jährigen in Fußball-Trikots ins Gespräch und erklärt ihnen, dass sich ein Gentleman stets höflich und respektvoll verhält.
Dieser Artikel ist am 23.9.2017 im Extra der Wiener Zeitung erschienen.
Herr Krabbenhöft, Sie legen viel Wert auf Ihr Äußeres. Warum ist Ihnen Kleidung so wichtig?
Günther Krabbenhöft: Es ist nicht wichtig, aber es erfreut mein Auge. Jeder kann tun, was er möchte. Aber ich finde es schön, wenn man sich Gedanken über seine Kleidung macht. Vielleicht gefällt den Leuten, wie sie sich kleiden. Ich habe eher das Gefühl, sie kleiden sich so, weil sie etwas anziehen müssen, um nicht nackt zu sein. Vor allem Männer tragen das, was ihnen vertraut ist. So hat die Mutter sie in den Kindergarten, die Buddelkiste und die Schule geschickt, und sie kleiden sich immer noch so. Manchmal gehe ich durch die Stadt und stelle mir die Männer mit Eimer und Schaufel in der Hand vor. Ich denke immer: Hey Leute, ihr seid Männer geworden, ihr seht aber aus wie Kinder!
Wie findet man seinen eigenen Stil?
Das Spiegelbild soll authentisch sein. Was zu einem passt, findet man, indem man kreativ ist, ausprobiert, experimentiert. Dazu braucht es Selbstbewusstsein, aber die meisten bleiben lieber in der Komfortzone und Anonymität der Masse, sie möchten um keinen Preis auffallen. Mein Rat: Sei du selbst! Vielleicht willst du Großstadtindianer sein, oder Dandy, oder Hipster . . .
Aber die Hipster kritisieren Sie doch auch!
Ich kritisiere nicht die Hipster, sondern alle Massenveranstaltungen. Vielleicht haben die Menschen einfach zu wenig Fantasie.
Es gab doch immer schon Trends, denen man folgte.
Ja, aber man muss immer fragen: Ist dieser Trend der richtige für mich? Oder denke ich automatisch, es ist cool, nur weil es alle machen? Der eine sieht hinreißend aus als Hipster, der andere nicht, aber als Dandy, Gentleman oder 60er-Jahre-Mod wäre er super-cool. Einfach ausprobieren!
Zwei Jahre ist es her, dass zwei junge Frauen Sie spontan ins Berghain (ein bekannter Nachtclub in Berlin, Anm.) mitgenommen haben. Seither gehen Sie regelmäßig zu Raves. Was gefällt Ihnen an der Clubkultur?
Die Musik befriedigt meinen Bewegungsdrang, der Rhythmus ist genau meins. Ich dachte früher, dass im Club jeder introvertiert ist, nur für sich tanzt und den anderen gar nicht wahrnimmt. Aber nein, genau das Gegenteil: Man kommuniziert nonverbal, blickt und lächelt einander an, die Atmosphäre ist sehr offen und fröhlich. Die diffusen Lichtverhältnisse, die stampfenden Bässe, das ekstatische Tanzen: Es war ein tolles Gefühl, in diese Welt einzutauchen, und die Menschen haben mich sehr herzlich aufgenommen.
Sie heben den Altersschnitt in den Clubs . . .
Die Jungen waren vielleicht eine Sekunde irritiert, aber dann sagten sie: „Schön, dass du da bist und mit uns feierst.“ Aber manchmal denke ich mir: „Alter, tickst du noch richtig?“, denn auf der einen Seite bin ich ein älterer Herr, und auf der anderen Seite habe ich eine unbändige, wilde Lebenslust wie ein 30-Jähriger. Wenn mir dann 25-Jährige sagen, sie möchten auch so sein, wenn sie alt sind, oder mir Komplimente für meinen tollen Move machen, dann fühle ich mich natürlich gebauchpinselt.
Haben Sie in Ihrer Jugend auch viel getanzt?
Ja klar, aber so ab 40 glaubt man, man könne nirgends mehr hingehen. Auch ich hatte diese Schere im Kopf, das ist schade. Aber was ist mit Menschen in meinem Alter, die wild getanzt haben in ihrer Jugend? Ich merke ja an mir selbst, die Lust ist noch da, die geht nicht weg! Das sind nur selbst auferlegte Schranken. Ich rate allen, die tanzen gehen wollen: tut es!
Was macht einen guten Dancefloor aus?
Wenn eine Geschichte erzählt wird, ich meine Tanzbewegungen ausleben kann und es immer ekstatischer wird. Da halte ich immer noch fett mit! Manchmal ergibt sich so ein Battle mit einem Jungen, und es bilden sich Leute um uns rum, das macht große Laune. Ich merke, dass ich akzeptiert werde. Oder wenn der DJ meinen Nerv trifft und mich mit seinem Track hochschraubt, ist das, als ob ich in die Umlaufbahn geschossen werde. Es kann dann passieren, dass ich auf der Tanzfläche stehe, und mir die Tränen runter laufen, ich Gänsehaut von oben bis unten habe, das löst Gefühle pur aus.
Für viele gehören zum Feiern Alkohol und Drogen dazu.
Ich trinke keinen Alkohol, der macht mich nur müde, und nehme keine Drogen. Ich werde immer wieder gefragt, welche Hilfsmittel ich genommen habe. Denen sage ich: Da oben ist meine Droge, sie kommt aus den Lautsprechern! Früher oder später werden auch sie merken, dass sie die Vervielfältiger ihrer Energie sind und sie nichts anderes brauchen. Der Atomreaktor ist in ihnen, das ist eine Schatzkiste an Energie, die ist höchstens eingestaubt oder zugemüllt.
Wie kommt man an diese Energie ran?
Das spürt man doch, was einen bereichert oder berührt. Man muss nur neugierig sein, im Leben Nebenwege gehen, den Nebenweg zum Hauptweg machen, alles in Frage stellen, den Leuten zuhören, und wenn mir die Meinung des Anderen nicht passt, muss man das aushalten! Man muss sich nicht immer einig sein, man kann manche Dinge auch einfach so stehen lassen.
Haben Sie das Gefühl, die Toleranz in der Gesellschaft hat zu- oder abgenommen?
Man sagt immer, die Toleranz habe zugenommen, aber die hindert uns auch daran, Standpunkte zu transportieren. Akzeptanz wäre die noch bessere Variante, Toleranz kann auch Desinteresse sein.
Wieviel Zeit verbringen Sie in den sozialen Medien?
Es gibt eine Stunde am Tag, in der ich nicht online bin, aber nur deshalb, weil ich da mein Handy suche (lacht)! Ich hatte lange Zeit kein Smart Phone, aber dann habe ich einen Schnellkurs bekommen, und seither bin ich viel auf Facebook und Instagram. Inzwischen kontrolliere ich mich stärker. So ist das bei mir: Wenn ich merke, es wird zu viel, greife ich ein und ändere mein Verhalten: Zuerst frühstücken, dann Zeitung lesen und erst dann ins Handy gucken.
Kurz nachdem Sie mit Anfang 60 in Pension gegangen sind, haben Sie zwei Jahre lang auf dem Land gelebt, abgeschieden und alleine. Wieso?
Ich frage immer: Was ist mir wichtig im Leben? Wenn man schwer arbeitet, braucht man Zerstreuung. Ich ging ins Theater, zu Vernissagen und kam zu dem Punkt, an dem ich feststellte: das sind alles nur Hypes. Aber wenn man glaubt, überall dabei sein zu müssen, erzeugt das Druck. Ich zog in ein kleines, bescheidenes Haus in Mecklenburg-Vorpommern. Das Haus gehört Freunden, es liegt am See, ich hatte keinen Fernseher, nur ein Radio und ein Fahrrad. Manchmal sprach ich eine Woche lang mit niemandem, wenn ich einkaufen wollte, musste ich 30 Kilometer bergauf und bergab radeln. Ich hatte Beine, die waren hart wie Beton. Ich habe reflektiert, in Abgründe geschaut, Hörspiele wiederentdeckt, bin stundenlang spazieren gegangen.
Man versteht das Leben ja immer erst rückblickend, aber das waren die zwei glücklichsten Jahre meines Lebens. Ich stand vor den Rapsfeldern unter dem riesigen Mecklenburger Himmel, habe geheult vor Glück und gedacht: Was braucht der Mensch? Welchen Dingen läuft man in der Stadt eigentlich hinterher? Alles, was mein Herz erfüllt, gibt es hier umsonst! Im Herbst kamen die Wildgänse, über dem See lag Nebel . . . die Nachbarn haben sich morgens auf den Höfen getroffen, um einen Korn zu trinken . . .
Es war also ein ganz kleines Dorf?
Ja, vielleicht zehn Häuser. Man kannte mich im Dorf natürlich, ich war der Verrückte aus der Stadt, der immer mit dem Fahrrad kommt.
Wie war es, in die Stadt zurückzukehren?
Ich hatte Aversionen, habe mich gewehrt. Aber irgendwann habe ich mich wieder mit Berlin angefreundet. Man radelt durch die Nacht, überall sind Menschen . . . Ich habe die Stadt neu entdeckt und gesehen, dass alles seinen Reiz hat. Das zeigt mir auch: Ich lebe!
In Berlin leben Sie seit 30 Jahren mit zehn Freunden in einer Hauswohngemeinschaft. Wie kam es dazu?
Wir haben ein Haus gekauft, das besetzt war und abgerissen werden sollte. Wir mussten es selbst instand setzen, das Dach fehlte, es gab kein Treppenhaus. Wir haben drei Jahre Arbeit reingesteckt, unsere Muskelhypothek! Wir waren eine Mischung aus Studentinnen, Berufstätigen, alleinerziehenden Müttern, und ich als alleinerziehender Vater mit Kind. Wir wollten eine Wohnsituation schaffen, die uns hilft, gemeinsam älter zu werden. Das ist bis heute meine Heimat, mitten in Berlin-Kreuzberg.
Ist es ein Irrglaube, dass man in der Kleinfamilie oder Zweipaarbeziehung das Glück findet?
Ich vermisse meine biologische Familie (die nicht in Berlin lebt, Anm.), lebe aber trotzdem mein Leben. Ich sitze nicht zu Hause und sage, alle müssen mich besuchen. Viele haben zu hohe Erwartungen, wie Familie zu sein hat. Ich bin gerne mit der Familie, wenn es sich ergibt. Aber das muss nicht zu Weihnachten sein, nur weil man das so macht. Wenn die Kinder groß sind, muss man fühlen, dass man selbst auch noch jemand ist, und so ist das auch in der Ehe: Die Menschen, die mal wild aufeinander waren, sind plötzlich nur noch Mama und Papa – das ist doch schade! Heute sind meine Freunde meine Familie.
Ihre Tochter kam 1968 auf die Welt, Sie haben sie anti-autoritär erzogen. Rückblickend ein Fehler?
Ja, meiner Tochter ging es auf den Keks, dass immer alles ausdiskutiert und erklärt wurde. Als sie mir das sagte, war ich natürlich baff. Ich wollte immer, dass sie meine Entscheidungen versteht. Ich bin als Nachkriegskind in einer restriktiven und autoritären Familie groß geworden, da gab es durchaus was hinter die Ohren, und mir war klar, dass ich mein Kind so nicht erziehen will. Aber vielleicht war meine Erziehung das andere Extrem. Manche Kinder brauchen vielleicht klarere Ansagen und mehr Halt.
Heute ist das Kind oft der Lebensmittelpunkt.
Das ist furchtbar! Wenn ich das sehe, diese bewegten Mütter und Väter, denke ich immer: Leute, macht euch mal locker, das sind Kinder! Die müsst ihr lieben, aber ihr müsst doch nicht alles für sie aufgeben. Zu meiner Zeit, da lebten wir ja freie Liebe und alles war anders. Wenn wir Party gemacht haben, haben unsere Kinder im Schlafzimmer auf einem Berg Mäntel gepennt. Als die Party um drei Uhr Früh zu Ende war, haben wir die Kinder wieder mitgenommen und sie haben auch keinen Schaden davongetragen. Das wäre heute undenkbar, es gibt große Unsicherheiten, Eltern wollen alles richtigmachen. Vielleicht sollten sie wieder mehr auf den Bauch hören.
Nach Ihrer Scheidung ist Ihre Tochter bei Ihnen aufgewachsen. In den 1970er Jahren war das unüblich, oder?
Das hat sich so ergeben: Meine Frau hat noch studiert, ich habe gejobbt, und meine Tochter wollte zu mir. Ich habe für meine Tochter ganz normal gesorgt, wie Frauen das alltäglich tun, da fragt keiner danach. Aber die Reflexe, einem alleinerziehenden Vater zu helfen, waren sehr groß, und das hat mir manchmal sehr genutzt, etwa wenn ich Platz bekommen wollte für eine Ferienfreizeit.
Die Bundestagswahl steht bevor. Interessieren Sie sich für Politik?
Na klar. Alles ist politisch, das ganze Leben. Aber ich mache nur den Mund auf, wenn ich für etwas brenne. Es ist wichtig, für etwas zu kämpfen, ich rate aber auch zu Gelassenheit: Als Ronald Reagan US-Präsident wurde, war die Welt in Aufruhr. Gut, heute ist es nochmal eine andere Nummer mit diesem Psychopathen. Aber wir überleben alles. Mein Rat lautet: Keep cool. Alles ist nur ein Wimpernschlag im Lauf der Geschichte. Stadtteile verändern sich, aber die, die sich beschweren, sind Teil des Veränderungsprozesses. Ihr habt jetzt andere Ansprüche als in zehn Jahren, aber das wisst ihr noch nicht. Irgendwann sucht ihr auch eine Wohnung, habt Familie. Ich bezweifle, dass die Aktivisten von heute ihre Kinder später in Brennpunktschulen schicken werden.
In Deutschland wurde die Ehe für alle beschlossen. Was halten Sie davon?
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wofür es die Ehe noch braucht. Natürlich ist es wichtig, dass alle dieselben Rechte haben. Plötzlich heiraten halt die Schwulen auch. Ich bin für die Ehe nicht geeignet. Ich brauche meine Freunde, mit ihnen ist es viel einfacher und leichter, diese Beziehung ist viel stärker vom Verzeihen und Zulassen geprägt als diese Ansprüche und Abmachungen, die mit einer Ehe einhergehen. Natürlich, die Sexualität kommt dazwischen, damit will man den anderen disziplinieren. Wer denkt, wer verheiratet ist, hat so viel Sex wie möglich – Pustekuchen! Alles wird benutzt, um den Partner zu bestrafen oder zu belohnen. Die Ehe ist durch den Tatbestand, dass man einen Vertrag hat, belastet. Das ist schade. Es ist sehr wichtig, dass man einander akzeptiert, wie man ist.
Sie haben in den 1980er Jahren zwei Jahre lang in der Sterbebegleitung von AIDS-Kranken gearbeitet. Was hat Sie das gelehrt?
Das war eine sehr emotionale und schwierige Zeit. Wir waren damals noch unsicher, wie man sich anstecken kann. Die Arbeit hat mir gezeigt, wie fragil und besonders es ist, am Leben zu sein. Es hat mir als damals junger Mensch geholfen, meine Endlichkeit zu begreifen. Die Menschen, die ich betreut habe, sind oft im Alter von etwa 35 Jahren gestorben.
Beschäftigen Sie sich mit dem Tod?
Der Tod hat mich immer fasziniert. Schon als Kind bin ich gerne zum Friedhof gegangen, das war einer meiner Lieblingsplätze. Ich nahm mir Essen mit, setzte mich zu den Gräbern und dachte mir Geschichten über die Verstorbenen aus. Im Vorjahr habe ich mir ein historisches Grab gekauft und saniert, es ist ein Obelisk aus schwedischem Granit. Dort haben sechs Personen Platz, zwei Särge und vier Urnen. Das wird eine Urnen-WG mit meinen Freunden und meiner Ex-Frau. Das Grab liegt auf einem Hügel, es ist so schön! Wir pflanzen gerade Krokusse und einen Rasen. Es soll kein Friedhof der Kuscheltiere werden, denn ich hasse Deko. Ich weiß nicht, wie es wird, wenn die Stunde meines Todes kommt. Aber wenn ich jetzt daran denke, macht es mich eher fröhlich, weil ich diesen schönen Ort habe.