Ungebremste Rad-Anarchisten

by Bettina Figl

Erschienen in der „Wiener Zeitung“ am 15.10.2011

Hermes ist Wiens kleinster und wohl unkonventionellster Fahrradkurierdienst. Die  Rad-Boten übertreten Verkehrsregeln, singen Geburtstagsständchen und entscheiden gemeinsam

Wien. Fahrradbotin Therese schlängelt sich auf ihrem blitzblauen Rennrad an Autokolonnen vorbei, geht in marmorverfliesten Bürogebäuden ein und aus und fährt mit vollem Karacho über den Karlsplatz. „Rote Ampeln zu überfahren gehört zum Job“, sagt die 24-Jährige selbstbewusst. Für den Fahrradbotendienst Hermes – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Paketdienst – arbeiten rund zwanzig Boten, viele in ihren 20ern, andere sind über 40 Jahre alt. Und zur Hälfte sind es Frauen, die in die Pedale treten – das ist unüblich in der männerdominierten Branche.

Kein Chef, Frauenquoten, faire Arbeitsbedingungen

Hermes beschäftigt seit der Gründung 1993 ebenso viele Frauen wie Männer, denn „in einem gemischten Team arbeitet es sich angenehmer“, erklärt Radkurier Pavo, der seit 13 Jahren für Hermes radelt. Frauen seien bevorzugt aufgenommen worden, „auch wenn sie auf den ersten Blick nicht die gleichen Qualifikationen hatten“. Positive Diskriminierung? Die Qualifikationsanforderungen sind ohnehin nicht allzu groß: Für den Job müsse man zuverlässig sein und Karten lesen können – der Rest komme mit der Routine, nach der Eingewöhnung seien Frauen und Männer gleich auf. Therese – selbst eine „Quotenfrau“ – sagt: Obwohl die körperlichen Voraussetzungen bei Männern und Frauen oft unterschiedlich seien, „der Kurierdienst ist kein Leistungssport“.

Die Hermes-Zentrale liegt in der Zirkusgasse im zweiten Bezirk, zwischen zerschlissenen Ledersofas und mit Stickern übersäten Wänden sitzt der Disponent und koordiniert die Aufträge. Er ist in ständigem Kontakt mit den Boten, das Handy hat das Funkgerät längst abgelöst. Zur Grundausrüstung gehören überdies Umhängetaschen, in denen versiegelte Liebesbriefe, vergessene Jausenbrote und verlorene Zahngebisse transportiert werden. Während Geschichten von abgetrennten Fingern und toten Tieren die Runde machen, hat auch der ganz normale Alltag Skurriles zu bieten: An diesem Vormittag bringt Therese hippen Jungeltern frisch zubereitetes Ayurveda-Essen in eigens dafür abgeholtem Tupper-Geschirr, dann überrascht sie eine Empfangsdame – „Die sind wirklich für mich?“ – mit Blumen.

Während Politik-Absolventin Therese nach einem Thema für ihre Doktorarbeit sucht, beliefert sie also Bürgermeister Michael Häupl und Ex-Minister Martin Bartenstein mit Briefchen und sagt: „Es ist schon lustig, wenn man nur als Dienstpersonal wahrgenommen wird.“ Ursprünglich hat sie bei Hermes angeheuert, um „schnelles Geld“ für ihre Venezuela-Reise zu verdienen. Doch auch fünf Jahre später radelt sie an vier Tagen pro Woche durch Wien – „aus Mangel an Perspektiven“ – und weil es Spaß macht.

Hermes ist der kleinste von insgesamt vier Fahrradbotendiensten in Wien. Wer hier fährt, ist sozialversichert und wird pro Stunde bezahlt. Für ein Leben auf Sparflamme reicht es, der Stundenlohn liegt bei sieben bis acht Euro (brutto). Mehr verdient man bei Wiens Fahrradboten-Pionier Veloce, der seit 1987 in Grellgelb durch die Stadt düst. Die Veloce-Fahrer sind – wie in der Branche üblich – pro Auftrag am Umsatz beteiligt. Vor einigen Jahren wurden die Preiserhöhungen nicht an die Fahrer weitergegeben, also streikten sie. Daraufhin feuerte Veloce-Chef Paul Brandstätter etwa 25 Fahrer – ein Szenario, das bei Hermes schwer vorstellbar wäre. Denn hier gibt es keinen Chef, alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen – „was mühsam ist“, wie ein Bote zugibt. Einmal pro Monat tagt das Plenum, nach dem Dienst trifft man sich, rollt eine Zigarette nach der anderen und bespricht das Erlebte: Das habe auch eine Ventil-Funktion, denn Beschimpfungen, aggressive Autofahrer und sexistische Bemerkungen stehen an der Tagesordnung.

Täglich kommt nicht nur einiges an Frustration, sondern auch an Kilometern zusammen: Bis zu 80 sind es in einer Fünf- bis Sieben-Stunden-Schicht, mit maximal 15 Kilo Gepäck. Die Hermes-Fahrer radeln auch über die Stadtgrenze hinaus, gängige Destinationen sind der Flughafen Schwechat, Maria Enzersdorf oder Baden. Vielleicht liegt es ja am Namenspatron (Hermes ist der Schutzgott des Verkehrs), dass bisher niemand lebensgefährlich verletzt wurde. „Die meisten Unfälle passieren am Heimweg, wenn man nicht mehr so konzentriert auf dem Rad sitzt“, sagt Savini, der gerade von einem – in der Freizeit zugezogenen – Schlüsselbeinbruch genesen ist. Die Boten machen abbiegende Autofahrer, Radfahrer in der Mitte des Radwegs und aufgehende Autotüren als größte Gefahrenherde fest.

„Mit der Polizei zu diskutieren, hilft nichts“

Für den Umgang mit der Polizei rät Pavo: „Zuvorkommend sein und die Schuld einsehen – diskutieren hilft sowieso nichts.“ Heute gibt es in der Stadt mehr Radler als je zuvor – doch auch die Rücksichtslosigkeit der Autofahrer gegenüber Radfahrern habe zugenommen, so die Hermes-Radler.

Auf Wiens Straßen sieht man immer mehr „Fakengers“: So nennt man Menschen, die den Stil der Boten – Kuriertaschen, hochgekrempelte Hosenbeine, Vintage-Radkappen – kopieren und mit den bei den Boten beliebten „Fixies“ durch die Stadt kurven. Bei Hermes freut man sich über den Trend, denn sobald diese Fahrräder, die ursprünglich aus dem Bahnradsport kommen, wieder aus der Mode sind, können sie diese wieder billig im Zweitbesitz kaufen. Gebremst wird bei Fixie-Rädern nur mit den Füßen – eine gewisse Radikalität gehört zum Kurier-Lifestyle also dazu. Im persönlichen Umgang geben sich die Rowdys zahmer: Auf Wunsch trällern sie für ihre Kunden sogar Geburtstagsständchen, und am liebsten würden sie mehr Pensionisten mit Einkäufen und Apotheken-Besorgungen beliefern.