Schabbat-Dinner und Blockparty

by Bettina Figl

In New York stellt jede Minderheit irgendwo auch die Mehrheit – ein Stadtspaziergang.

„Halleluja, Halleluja, Halleluja!“ Aus den Tiefen ihrer Lungen rufen sie den Namen Gottes, hyperventilierend versetzen sie sich in Trance-ähnliche Zustände. Unter die Schreie der Zeugen Jehovas von nebenan mischen sich Polizeisirenen, die in der Ferne in Endlosschleife aufheulen. Das Ritual ist ein allabendliches Wiegenlied, und in der Früh übernimmt der jüdisch-orthodoxe Kindergarten: mit hoch gepitchtem, hebräischem Sing-Sang wecken die Kids das ganze Wohnhaus. Dieser Artikel ist am 20.5.2017 in der „Wiener Zeitung“ erschienen.


Das Grätzel Crown Heights in Brooklyn ist eine der wenigen Nachbarschaften in New York City, in denen die Mieten noch leistbar sind. Hier kostet ein WG-Zimmer knapp unter 1000 Dollar – für New Yorker Verhältnisse ein Schnäppchen. Die nächste Starbucks-Filiale, das Symbol voran geschrittener Gentrifizierung, befindet sich etliche Häuserblocks weiter westlich Richtung Manhattan.

Im Gegensatz zu dem von Hochhäusern geprägten Stadtbild Manhattans findet man in Crown Heights viele Brownstones – die Einfamilienhäuser aus rotem Sandstein kennt man aus US-Serien wie der „Bill Cosby Show“. Das Viertel ist grün und, wenn die religiöse Dauerbeschallung nachlässt, ruhig. Viele Familien ziehen hierher. Dennoch kommt es vor, dass man von alt eingesessenen New Yorkern gefragt wird: „Was, du lebst in Crown Heights? Ist es dort sicher?“

Bis vor wenigen Jahren galt Crown Heights als heißes Pflaster; 1991 fanden hier die Crown Heights Riots statt. Damals bekriegten sich die afro-amerikanische und die jüdisch-orthodoxe Community. Ausgelöst wurden die Tumulte von einem Autounfall, bei dem ein Oberrabbiner den 7-jährigen Sohn guyanischer Einwanderer tötete. Gerüchte besagen, der jüdische Rettungsdienst habe dem Buben Erste Hilfe verwehrt – daraufhin folgten dreitägige Straßenschlachten: jüdische Häuser und Autos wurden zerstört, ein afro-amerikanischer Jugendlicher erstach einen jüdischen Studenten aus Australien.

Heute leben die Menschen in dem Grätzel in friedlicher Koexistenz. Nach wie vor wohnen hier vor allem Afro-Amerikaner und orthodoxe Juden. Wie in Crown Heights ist in ganz New York die Kriminalität drastisch gesunken. Abseits der Projects, den Sozialbauten, in denen sich Gangs bekämpfen, gilt die Stadt als sicher, selbst die Bronx.

Von friedlichem Miteinander ist auch der Alltag in Crown Heights geprägt: Jüdisch-orthodoxe Frauen im Faltenrock schieben Kinderwägen ins 24-Stunden-Deli, bärtige Männer mit Kippa oder Hut huschen vorbei und unterhalten sich auf Jiddisch. Wenige Häuserblocks weiter duftet es nach gegrilltem Huhn und Marihuana. Afro-Amerikaner haben ihre Campingsessel zwischen jamaikanischen und haitianischen Frisörsalons aufgeklappt, das Autoradio dröhnt in voller Lautstärke.

Als Atheistin ist man allein auf weiter Flur

Die beiden Communities leben Tür an Tür, und doch bleibt jeder für sich. Christen und Juden, Voodoo-Anhänger und Gospelsängerinnen, Straßenprediger und Wachturm-Missionare: Überall in New York trifft man auf Gott und seine Groupies – doch Crown Heights im Stadtteil Brooklyn ist ein regelrechtes Religions-Potpourri. Als Atheistin ist man allein auf weiter Flur.

Vor allem zu den jüdischen Feiertagen wird man auf der Straße angesprochen und gefragt, ob man Jüdin sei. Verneint man dies, endet das Gespräch meistens abrupt. Ist das ein Zeichen gescheiterter Integration? Aber wer müsste sich hier integrieren? Und ist das Wort „Integration“ in einem Schmelztiegel wie New York überhaupt das richtige?

New York ist eine Stadt der Immigranten, in einem Land der Immigranten. Sie wurde von Einwanderern aufgebaut, und ein New Yorker ohne Migrationshintergrund ist nicht existent. Dass die Zugezogenen ihre Traditionen mitbringen, ist selbstverständlich. Sie bereichern die Stadt bis heute. Beispiele gefällig?

Kimchi und Samosas: Einwanderer bereichern auch den Geschmackssinn (aber nicht nur)

Das beste italienische Essen findet man längst nicht mehr in Little Italy in Manhattan (Touristenfalle!), sondern in der Bronx. Auch die meisten Restaurants in China Town sind überteuert – Berge an Glasnudeln zu Spottpreisen gibt es in dem Food Court der New World Mall, im größten asiatischen Einkaufszentrum der Stadt. Etliche Blocks weiter westlich, ebenfalls in Queens, kann man sich in Little India in Jackson Heights mit Samosas und Mango-Lassis laben.

In Korea Town in Manhattan findet man das beste Kimchi (eingelegtes Gemüse) der Welt, und Afro-Amerikaner haben deftiges Soul Food in Harlem groß gemacht – wobei dieser Stadtteil Manhattans aufgrund der vielen Puerto Ricaner inzwischen Spanish Harlem genannt wird. In New York stellt jede Minderheit irgendwo auch die Mehrheit – und dieser Mix der Kulturen bereichert weit mehr als den Geschmackssinn.

In New York lernt man sehr schnell, dass Menschen unterschiedliche Hautfarben, Herkunftsländer und sexuelle Vorlieben haben – und das ist gut so. An keinem anderen Ort in New York fühlt sich New York weniger nach New York an als im bis auf den letzten Platz gefüllten Madison Square Garden wenn Billy Joel vor tausenden, ausschließlich weißen Menschen, ausgerechnet seine „New York State Of Mind“-Hymne singt.

Einen Eindruck der New Yorker Seele bekommt man ganz woanders: In der U-Bahn und im Waschsalon. Da in New York nur eine Minderheit den Luxus genießt, eine eigene Waschmaschine zu besitzen, treffen im Laundromat, im Waschsalon, die unterschiedlichsten New Yorker aufeinander.

Die Train, wie die New Yorker ihre U-Bahn nennen, ist ein weiterer dieser Meeting Points. Ihren Commute – das Pendeln – haben die Bewohner perfektioniert: Sie schlafen, hören Musik oder lesen, essen ihre Jause. Ab und zu steigt jemand mit riesigen Musikboxen ein und beschallt den ganzen Wagon, dann wieder halten Obdachlose Ansprachen und bitten um etwas Kleingeld. In der U-Bahn wird aber auch Small Talk betreiben oder man gratuliert einander zur gelungenen Kleiderauswahl: „I love your Shirt“.

Der Mythos der US-amerikanischen Oberflächlichkeit

Ist das die viel besagte US-amerikanische Oberflächlichkeit? Mitnichten. Ein solches Kompliment ist nicht mehr und nicht weniger als ein ausgesprochener Gedanke und eine Form der Begegnung.

In dem Treiben der Millionen-Metropole könnte man sich verloren und einsam fühlen – dass man es nicht tut, liegt an Szenen wie diesen: Am Ufer des East Rivers im Stadtviertel Dumbo in Brooklyn kann man abends vom „Brooklyn Bridge Park“ aus beobachten, wie die Sonne zwischen der Manhattan Bridge und der Brooklyn Bridge im Wasser versinkt. Sitzt man, mit einem Buch in der Hand, vor dieser spektakulären Kulisse auf einer Parkbank, kann es passieren, dass sich ein Passant dazu gesellt und fragt: „Fiction or Non-Fiction?“, also“Sachbuch oder Belletristik?“ Daraus entsteht mitunter ein anregendes, halbstündiges Gespräch, und anschließend verabschiedet man sich, ohne Kontakt auszutauschen.

Das sind Alltagsbegegnungen, die zu nichts führen – außer, dass sie sich gut anfühlen und man daraufhin beschwingter seiner Wege geht.

New York als Antidepressivum für Mitteleuropäer

Die Ironie an der Sache ist: In den USA haben die New Yorker den Ruf, unfreundlich und ruppig zu sein. Wurde man aber in der mitteleuropäischen Grant-und-Groll-Kultur sozialisiert, wirkt der New York-Aufenthalt wie ein Antidepressivum.

 

Ein bisschen Augenkontakt und Lächeln, das müsste eigentlich sogar in Mitteleuropa drin sein. Dass die Wiener eher zusammenzucken, wenn man sie anspricht, und ein Lächeln etwas sehr Verdächtiges ist, hat ein an der US-Westküste lebender Professor einmal so kommentiert: „Ich liebe Wien, ich liebe Europa. Aber ich freue mich immer, in die USA zurückzukommen. Hier kann ich Menschen anlächeln, ohne dass sie mich ansehen als wäre ich ein Kinderschänder.“

Vielleicht würde sich der Ruf nach Integration erübrigen, wenn auch die Europäer etwas mehr auf andere Menschen zugehen würden. Ein afghanischer Flüchtling erzählt: Im Iran und der Türkei sei er auf der Straße ständig angesprochen und gefragt worden, woher er komme, was er hier mache. In Wien sei ihm das noch nie passiert, und er fragt: „Warum reden die Menschen hier nicht mit uns?“

Eines ist sicher: Wären wirklich nur Europäer nach Amerika eingewandert, wäre das Land in vieler Hinsicht ärmer. Natürlich ist New York nicht die USA, sondern vielmehr eine Art Essenz aus all dem, was diese Welt zu bieten hat. Dazu gesellen sich allerhand Probleme: soziale Ungerechtigkeit, wachsende Armut, die Infrastruktur funktioniert mehr schlecht als recht, und mit der neuen Regierung wird diese Liste eher länger als kürzer.

Aber eines haben die New Yorker verstanden: Mit schlechter Laune wird sich daran auch nichts ändern – sie engagieren sich lieber in Lebensmittelkooperativen, Community-Gärten oder in der Freiwilligenarbeit und beweisen damit ihren Sinn für Gemeinschaft. Ob sie in dieser nun Halleluja singen, Billy Joel zujubeln oder bei einem Schabbat-Dinner zusammenkommen, ist zweitranging.